Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
privat wohnen und selbst für seine Verpflegung sorgen, was in Berlin schon sehr schwierig ist. Das OKW ist ein Ministerium wie alle anderen auch, das heißt Arbeit gibt es reichlich, und was außerhalb der Dienstzeit passiert, kümmert niemanden. Die Nähe zu Halberstadt erweist sich als zweischneidig – er ist zu weit weg, um jederzeit eingreifen zu können, und er ist nah genug dran, um die Probleme viel intensiver als in Pleskau zur Kenntnis nehmen zu müssen: die Schwierigkeiten in der Firma, die Sorgen um die schwerkranke Dagmar Podeus und den dahinschwindenden Kurt, Elses Überforderung in dem bis unters Dach gefüllten Haus. Wann immer er kann, fährt HG übers Wochenende nach Hause, doch dann hockt er die ganze Zeit im Kontor, und die Kinder und Else fühlen sich vernachlässigt.
Dazu kommt, daß ihm der Job keinen Spaß macht. HG an Tochter Barbara: »Diese Schreibtisch-Arbeit hat so gar nichts mit meiner soldatischen Passion zu tun, und es liegt nahe zu denken, daß wenn schon Schreibtisch, dann wenigstens der eigene im Büro der Firma das Gegebene für mich wäre. Hier hat man mir, ohne sich um meine völlig mangelnden Vorkenntnisse zu kümmern, gleich eine ziemliche Verantwortung mit der Leitung zweier wichtiger Abteilungen des Ministeriums aufgehalst, ich unterschreibe täglich Berge von Unterschriftenmappen ganz kühn mit ›Der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, i.A. Klamroth‹, wobei mir der Ausspruch des ollen schwedischen Kanzlers Oxenstierna in den Sinn kommt: ›Mein Sohn, du weißt ja gar nicht, mit wie wenig Verstand ein Volk zu regieren ist.‹« Was HG genau macht in seinem Büro in der Charlottenburger Jebensstraße, erschließt sich mir nicht. Abwehr III ist Spionage-Abwehr und Gegenspionage, und soweit ich es verstanden habe, überwacht HGs Abteilung »Z Arch Wa A« Personalien und Geheimschutz des Heereswaffenamts, das zuständig ist für moderne Waffenentwicklung von der Atomforschung bis zur Raketenrüstung – kein Wunder, daß HG keine Lust dazu hat.
Wie ein Blitz aus heiterem Himmel trifft HG allerdings etwas anderes. Else hat seine Pleskauer Koffer und Kisten ausgepackt, die Anfang April 1943 nach Halberstadt geliefert worden waren. HG ist schon in Berlin. Dabei fielen ihr Liebesbriefe einer Dame namens Hanna in die Hände, und jetzt rastet sie völlig aus. Sie schlägt um sich wie ein waidwundes Tier, alles Elend all der Jahre seit Cläreliese kocht in ihr hoch: »Hans Georg, ich kann nicht mehr!« Ich habe nur die Kopie dieses einen sehr langen, verzweifelten Briefes von Else vom 10. April 1943. Die Quälerei aber zieht sich bis in den Sommer 1944, ich kann das aus HGs Antworten ablesen. Es kostet mich Anstrengung, dies aufzuschreiben. Ich möchte beide schütteln, sie anschreien: »Großer Gott, ihr habt nicht mehr viel Zeit!« Woher sollen sie das wissen? Alle gehen wir mit unserer Zeit um, als gebe es sie unbegrenzt, wir alle behandeln unsere Zerwürfnisse, als könne man sie auch morgen noch klären.
Ich bin auf Vermutungen angewiesen, HGs Tagebücher hat die Gestapo mitgenommen. Es gab eine Hanna früher. Geschmackvollerweise und nicht zum ersten Mal ist das die Dame eines befreundeten Ehepaars. Wenn es die ist, dann ist die Geschichte wirklich »uralt«, wie HG sagt, denn diese Hanna ist noch vor dem Krieg mit Mann und vielen Kindern ins hinterste Schlesien umgezogen. Es ist schwer vorstellbar, wie die Geschichte sich hätte aufrechterhalten sollen über die große Entfernung. Warum aber schreibt Hanna an HG in Pleskau Liebesbriefe von »dieser Intimität«, wie Else sich empört? Vielleicht hat sie Sehnsucht nach ihm, vielleicht gefällt es ihr nicht in Schlesien, und sie wünscht sich zurück in alte Halberstädter Zeiten? Da es mehrere Briefe sind, wird HG ihr entsprechend geantwortet haben.
Else erkennt die Schrift, hell lodert ihr Mißtrauen, deshalb liest sie, was sie gefunden hat. Sie wird von dieser Affaire – »uralt« oder nicht – erst jetzt erfahren haben und begreift, daß sie – zum wievielten Mal? – verraten wurde von und mit einer sogenannten Freundin. »Hannas sittlicher Maßstab ist ihr eigenes Glück«, schreibt Else und »wenn Hans« – das ist der Mann dazu – »wenn Hans auch schwierig ist, ganz zweifellos, anständig ist er auf alle Fälle«. Daß HG die Briefe in seinem Gepäck aus Pleskau mit nach Hause bringt, ist nicht nur dumm – er ist Abwehrmann, nicht wahr? –, es ist unverzeihlich. Was mutet er Else zu? Sie hält
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