Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
in Italien, Ausnahmezustand in Norwegen, Ausnahmezustand in Dänemark. HG an Else: »An unser aller Himmel ziehen Sorgen und Probleme auf, die so übermächtig sind, daß uns kaum Zeit und Kraft bleiben wird, an unsere eigenen kleinen Probleme zu denken.«
Doch, das schaffen sie. Else schafft das. HG würde lieber gestern als heute zu dem »früher« zurückkehren, als Else »ihre Krisen« bekam und sich danach wieder einfädeln ließ in das gemeinsame Leben, das HG zur Pflege der Nachbargärten nutzte. Das funktioniert nicht mehr, Elses Narben sind alle aufgebrochen. HG in seinen Antworten auf ihre Briefe: »Ich habe weder Kraft, noch Lust, noch Möglichkeit, um auch nur durch ein, geschweige denn durch ›1000 Betten zu kriechen‹, wie Du es so geschmackvoll ausdrückst.« – »Es ist so traurig, anstatt eines liebevollen Anschmiegens, nach dem ich mich so sehne, immer nur Kälte und Ablehnung bei Dir zu finden. Von daher wäre es fast nicht verwunderlich, wenn ich den Ersatz dafür wo anders suchen würde.« – »Ich kann über Deinen Brief nur traurig den Kopf schütteln, und obwohl ich, gleich Dir, schon nahezu das Gefühl habe, ›es lohnt nicht‹, so muß ich gegen diese Resignation ankämpfen, denn Du lohnst Dich, unser ›wir‹ lohnt sich, Du und die Kinder, Ihr seid alles, was gut und lebenswert ist, und das lohnt sich.«
Draußen in der Welt brennen die Scheiterhaufen. 23 000 Sinti und Roma werden 1943 nach Auschwitz deportiert, aus dem Warschauer Ghetto sind 300 000 Bewohner nach Treblinka verschleppt worden, der Aufstand der zurückgebliebenen 60 000 wird blutig niedergeschlagen, keiner überlebt. 42 000 Juden fallen einer Massen-Erschießung im Distrikt Lublin im Generalgouvernement zum Opfer – die Aktion heißt »Erntefest«. Holländische Juden, griechische Juden, die baltischen Juden werden liquidiert, in der »Aktion Reinhardt« sind mehr als 1.6 Millionen Juden in den Lagern Belzec, Sobibor und Treblinka ermordet worden. Ich muß davon ausgehen, daß HG vieles weiß, selbst wenn die Abwehr sich um Militärisches kümmert. Ich will gern glauben, daß Else das Ausmaß nicht kennt, aber sie müßten nur vor der eigenen Haustür nachsehen. Die Halberstädter Juden sind schon 1942 abgeholt worden. Weder HG noch Else haben das irgendwo erwähnt, auch nicht die Einführung des Judensterns im September 1941. Else, die unbekümmert jeden Quatsch ins Kindertagebuch schreibt, spricht noch nicht einmal nach dem Krieg darüber, als sie den Untergang Deutschlands in düsteren Farben schildert.
Ich bin unschlüssig, wie ich das einordnen soll. Eine Weile habe ich mir damit geholfen, daß HG und Else zu diesem Zeitpunkt nichts mehr aufschreiben konnten, das wäre zu gefährlich gewesen. Sie haben aber auch vorher nichts aufgeschrieben – seit HGs Nöten über den Ausschluß des »Juden Jacobsohn« aus dem Arbeitgeberverband im Jahr 1933 war der Umgang mit Juden für ihn kein Thema, jedenfalls nicht in seinen Aufzeichnungen. Den »Privatsekretär« Hans Litten erwähnt HG in der Firmenchronik 1940 und gelegentlich in Briefen, aber nie, daß Hans Littens Vater Jude war. Den alten Herrn Löwendorf aus Mattierzoll und seine furchtbare Geschichte kenne ich aus den Akten des Wiedergutmachungsverfahrens, bei HG ist das nirgends auch nur angedeutet. Else empört sich über den »Judenboykott« am 1. April 1933, über die Pogrome am 9. November 1938, sie bedauert, daß der Kinderarzt Dr. Schönfeld 1935 nach Palästina auswandert – und das ist es.
Es kann nicht sein, daß die fortschreitende Brutalisierung der Lebensumstände von Juden, daß die Zwangsarbeiter, die KZ-Häftlinge, die vielen Todesurteile – man kann darüber in den Zeitungen lesen, zur Abschreckung –, daß all dies kein Thema ist für HG, für Else, für die Freunde. Auch die schreiben nichts auf. In den Lebenserinnerungen von Menschen aus HGs und Elses Umfeld, die meisten geschrieben nach dem Krieg, ist die Rede von Hunger, Flucht, Bombennächten, Chaos vor allem – nirgendwo sind der Judenstern oder Deportationen oder KZs erwähnt. Dabei gibt es eins in der Nähe von Halberstadt, wo die Häftlinge vernichtet werden durch Arbeit für die Junkers-Werke – Langenstein-Zwieberge. Selbst wenn HG und Else, wenn die übrigen alles rechtens gefunden hätten, was um sie herum passierte, was ich nicht glauben will – nicht mal das schreiben sie auf, wo sie doch sonst alles zu Papier bringen. Ich habe keine Antwort.
Ich muß Ursula
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