Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
hinter dem »Harz« vermutet hatte. Er wird auch mit niemandem darüber geredet haben außer mit den Offizieren seiner Abwehr-Gruppe, und die müssen, wie HG, die vielen ausländischen Zwangsarbeiter – Franzosen, Polen, Russen – zunächst als ein geheimdienstliches Risiko betrachten. Keiner, auch HG nicht, kann sein Entsetzen artikulieren, wenn es denn eins gab.
HG fährt von Nordhausen auf dem Weg zurück nach »Tanne« in Halberstadt vorbei, das liegt um die Ecke. Er hat inzwischen einen Dienst-BMW »mit Fahrer und Benzin«, was ihn von den chaotischen Zugverbindungen entlastet. Wie soll ich mir das vorstellen? Da kommt er aus der Hölle, trinkt einen Tee mit Else, Wibke und Enziane Himmelblau, läßt sich endlich mal wieder die Haare schneiden, geht auf einen Sprung in die Firma, wo Hans Litten ihm einen konstruktiven Vorschlag macht, die nächste Katastrophe abzuwenden. Wieder am Bismarckplatz beruhigt er den desolaten Kurt, freut sich, daß Sabine früh genug von einer Jungmädel-Veranstaltung zurückkommt, so daß er mit ihr noch eine Runde Stadt-Land-Fluß spielen kann, und fährt rechtzeitig ab, bevor all die vielen Hausgäste eintrudeln, er will vor dem Alarm in »Tanne« sein. Und die ganze Zeit ist die Hölle ausgeblendet? Das Grauen schnürt ihm nicht die Kehle zu? Ich habe keine Antwort.
Dagmar Podeus stirbt, drei Tage vor Weihnachten 1943, ein Segen für sie, ein Segen für Else und trotzdem für alle sehr traurig. »Zum erstes Mal meines Lebens bin ich krank gewesen und habe Else zur Last gelegt«, schreibt sie bereits ein Jahr zuvor ins Gästebuch, und zwei Monate später »schon wieder als Patient, das ist ein ungehöriges Umgang, das ich nicht wiedervorkommen will!!« Dagmar mußte es »wiedervorkommen«, sie konnte nicht mehr allein in ihrer Wohnung sein, und dabei war sie so sicher gewesen, ihre Kinder zu überleben. Ihre Eltern wurden steinalt, und alle ihre älteren Geschwister laufen noch kerngesund herum – »was mache ich, wenn ihr alle verssswunden seid?« Dagmar wurde 72. Für Else ist ihr Tod bei aller Erleichterung eine große Trauer, sie fühlt sich ohnehin heimatlos durch das Zerwürfnis mit HG. »Ich bin ein Waisenkind«, schreibt sie ins Kindertagebuch, »jetzt habe ich nichts mehr, das mir die Illusion gibt, ich sei nicht allein.« Sie korrigiert sich sofort: »Natürlich bin ich nicht allein, weil ich Euch habe«, aber manchmal wären auch erwachsene Frauen gern wieder Kind, das Schutz findet unter der mütterlichen Schürze.
Else und HG finden keinen Weg zueinander. HG malt rote Herzchen in einen Brief – »ich hätte am Ende ein kleines bißchen K a f f e e für Dich – was meinst Du dazu?« Er klebt dänische Zeitungsausschnitte auf, wo es sich um Liebe und Ehe dreht: »Sag nicht in einer Ehe, ›er liebt mich nicht mehr‹, weil er nicht mehr in der ersten heißen Sturm- und Drang-Periode ist, das bedeutet nicht, daß seine Liebe tot ist, sie hat sich gewandelt in die Zusammengehörigkeit, die einem Wärme bringt für die Sinne und die Seele«. – »Die Ehe ist ein Prüfstein für den eigenen Charakter, nicht für den des anderen. Das ist nur etwas, womit man sich selbst entschuldigt.« HG schreibt darunter: »Ich sehne mich so danach, Dich in meine Arme zu nehmen – ich bin sehr einsam und sehr unglücklich.«
Aber Else gönnt beiden keine Pause. HG am 27. Januar 1944: »Dein Brief, der erste seit langer Zeit, war wieder ein so scheußlicher Schuß kalten Wassers in meine ohnehin nicht sehr rosige Stimmung. Ich muß mich wohl darein finden, daß die Scheu und das Angstgefühl, mit dem ich seit einiger Zeit jeden Deiner Briefe vor dem Öffnen dreimal rumdrehe, offensichtlich keine törichte Idiosynkrasie, sondern leider berechtigt sind, denn eigentlich steht jedesmal etwas in Deinen Briefen, was besser ungeschrieben geblieben wäre, weil es nur verletzt, ohne zu heilen.« Warum hat Else diese Briefe aufgehoben, wo sie doch so gut wie alles, was mit HG zu tun hat seit ihrer Verlobungszeit, vernichtet hat? Ich hoffe inständig, sie hat sie nicht noch mal gelesen nach HGs Tod. Das sind Zeugnisse tiefer Trauer und wechselseitiger Hilflosigkeit, für mich nur mit Mühe zu ertragen.
Vor dem Volksgerichtshof
V IERZEHN
H ALBERSTADT HAT INZWISCHEN einen ersten Luftangriff hinter sich – HG im Frühjahr 1944 voller Sorge: »Es tut mir so leid, daß ich bei diesem nun auch für Euch eingetretenen Ernstfall nicht bei Dir war.« Das häuft sich jetzt, vor mir
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