Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
den seit Monaten mit einer Knieverletzung krankliegenden Albert Speer, der begreift, daß dies zum wiederholten Mal ein Angriff Himmlers auf seine Person ist. Die SS agiert gegen den Rüstungsminister.
Speer interveniert bei Hitler, und gemeinsam erwirken Rüstungsminister und Abwehr-Offizier die Freilassung der drei Inhaftierten nach 14 Tagen. So steht es in einschlägigen Quellen, so steht es auch – kryptisch – bei HG am 7. April 1944: »Ich habe sogar gelernt, das bei Behörden und Dienststellen wohl unvermeidliche Intrigenspiel in personalibus mitzumachen und gerade kürzlich mal auf diesem Instrument eine geradezu virtuose Arie gespielt, die mir den ungeteilten Beifall aller Beteiligten einbrachte.«
Die SS hatte längst ihren Fuß in der Tür von Peenemünde. Seit Juni 1943 gab es dort ein Konzentrationslager mit Häftlingen aus Buchenwald, die zunächst zum Bau der Sicherungszäune um die Fertigungsanlage für die V 2 eingesetzt wurden. In der Nacht vom 17. auf den 18. August 1943 bombardierten die Engländer Peenemünde, mehr als 700 Menschen starben, vorwiegend Zwangsarbeiter. Daraufhin wurde beschlossen, die Produktion unter Tage zu verlegen und zwar in den Südharz in die Nähe von Nordhausen. Dort gab es ein Gipsmassiv, in das die BASF schon im Ersten Weltkrieg zwei Stollen vorgetrieben hatte, und mit der Ankunft der ersten 107 Häftlinge aus Buchenwald am 28. August 1943 begann, was unter der Bezeichnung »Mittelbau-Dora« zum Synonym für ein Inferno werden sollte.
In Tag- und Nachtarbeit wurden in den licht- und luftlosen Stollen die ersten Produktionsstätten für die V 2, das sogenannte »Mittelwerk«, von Häftlingen und Zwangsarbeitern gebaut, eine perfekte Fabrik, die – so Rüstungsminister Speer – »selbst für amerikanische Verhältnisse unübertroffen dasteht«. Überlebende berichteten nach der Befreiung: »Der Stollenvortrieb erfolgte mit Hilfe schwerer Preßluftbohrer, der Abtransport auch massiver Steinbrocken mußte mit Händen und Schaufeln bewältigt werden. Ständig wurden Gesteinsstaub und Gase aufgewirbelt, Ventilationsanlagen existierten nicht. In den Stollen gab es weder Wasch- noch Trinkwasser, die Männer urinierten aus Verzweiflung in die Hände, um sich den Kalkstaub wenigstens aus dem Gesicht zu waschen.« Die Schlafstollen waren drangvoll überfüllte Verliese voller Fäkalien, Ungeziefer, verwesender Leichen. Der Umzug in das im Bau befindliche Barackenlager zog sich schrittweise bis zum Juni 1944 hin, manche Häftlinge waren demnach neun Monate in dieser Unterwelt, wenn sie so lange überlebten.
Wer nicht in der Fertigung der V 2 eingesetzt war, landete in Baukolonnen. Die Häftlinge wurden für Erweiterungsarbeiten, neue Untertage-Vorhaben benutzt, die Konstruktionen der neu entstehenden Industrieanlagen waren gewaltig. Viele der Gefangenen hatten keine Schuhe und mußten barfuß im Geröll laufen, sie arbeiteten bei Minus-Temperaturen im Wasser beim Ausschachten von Gräben, sie hatten kaum Werkzeug außer ihren Händen, sie hungerten und litten an Entkräftung. Wer zusammenbrach, den prügelte das SS-Wachpersonal erbarmungslos wieder hoch. Die Sterblichkeitsrate war höher als in jedem anderen KZ in Deutschland. Schwerkranke und Invaliden wurden in Liquidationstransporten nach Auschwitz, Majdanek und Bergen-Belsen abgeschoben. Vorsichtige Schätzungen sprechen von 16 000 bis 20 000 Toten zwischen September 1943 und April 1945, das sind wenig mehr als anderthalb Jahre. Vernichtung durch Arbeit.
Warum erzähle ich das? Weil man es nicht oft genug erzählen kann. Hier erzähle ich es, weil HG dort mehrfach hinfährt, die V 2 ist sein Job. Ich möchte wissen, wie er sich dazu verhält. Selbst wenn er sie nicht gesehen haben sollte – schwer vorstellbar! –, die durch »Einkleidung« in Zebra-Uniform als KZ-Sklaven kenntlich gemachten Arbeiter, kann es nicht sein, daß der verantwortliche Abwehr-Offizier nicht weiß, wer die Wunderwaffe unter welchen Umständen baut. Es kann nicht sein, daß er nicht wenigstens einmal unter Tage auf der Galeeren-Baustelle im Mittelwerk gewesen ist, um sich anzusehen, was er da geheimdienstlich schützen soll.
Das KZ Dora liegt unmittelbar daneben und ist nicht zu übersehen mit seinem elektrischen Zaun und den hölzernen Wachttürmen. Natürlich schreibt er darüber nichts, ich finde in HGs Briefen auch nur den »Harz« als Zielort seiner Reisen, bis er sich einmal verplappert und »Nordhausen« nennt, was ich
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