Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
ist zum Gruppenleiter befördert worden im Dezember 1943, »noch dazu mit Vollmachten, wie sie kein anderer der alten Grulei’s hat – ich, der nahezu jüngste Major unter lauter alten Stabshengsten! Ich bin mir darüber im Klaren, daß ich damit meinen Kopf in eine Schlinge gesteckt habe, aus der ich ihn mit ebenso großer Vorsicht wie Energie wieder herausziehen muß – andererseits ist es natürlich eine Auszeichnung, um die mich alle beneiden und zu der ich von allen Seiten mehr oder weniger gleißnerisch beglückwünscht werde. Bisher war ich ein recht im Verborgenen blühendes Veilchen, das sich wohlweislich hütete, unnötigerweise aufzufallen. Jetzt werden mich bald aus allen möglichen Richtungen Scheinwerfer erfassen, ich muß aufpassen, daß ich in ihrem Licht nicht abgeschossen werde.«
In der Tat hat HG ein Himmelfahrtskommando übernommen, die Gruppe III W 2, verantwortlich für den vorbeugenden Geheimschutz militärischer Forschungsprojekte, vor allem der Raketenversuchsanstalt des Heeres in Peenemünde, wo die sogenannte V 2 entsteht. Das ist die erste Mittelstrecken-Rakete, entwickelt in zehn Jahren von Wernher von Braun und anderen. Eigentlich heißt sie Aggregat 4 = A4, aber Goebbels hat sie hurtig in »Vergeltungswaffe 2« umgetauft. »V 2 – die Blitzrakete«, dröhnt die Propaganda, »die furchtbare Wirkung von V 2« – »der lange Arm unserer Offensive«, die geheime Wunderwaffe, die Unbesiegbarkeit, Rettung in letzter Sekunde verspricht.
Es gibt auch eine V 1, eigentlich Fi 103, das ist eine strahlgetriebene »Flugbombe«, ein unbemanntes Flugzeug mit 1000 Kilogramm Sprengstoff an Bord, das von der Luftwaffe in nur einem Jahr aus dem Boden gestampft wurde und viel weniger kostet. Die V 1 wird abgeschossen, weil sie so langsam ist, die Flüssigkeitsrakete V 2 fliegt mit 5000 Stundenkilometern, das heißt: wenn sie fliegt. Weniger als die Hälfte der etwa 6000 gefertigten Raketen tut, was sie soll.
Militärisch erweisen sich beide Waffensysteme als irrelevant, das weiß die Öffentlichkeit aber nicht. Um so größer ist ihr Propagandawert, um so explosiver ist auch das Minenfeld, auf dem HG und seine ihm zugeteilten sechs Offiziere sich bewegen. Nicht nur sind die deutschen Fernwaffen ein bevorzugtes Ziel für feindliche Spione und Saboteure. Bei Tausenden und Abertausenden von technischen und zivilen Mitarbeitern in der Versuchsanstalt selbst und bei den vielen Zulieferern wird die wasserdichte Geheimhaltung, HGs Job, zur Sisyphus-Aufgabe.
Zudem sind sich, wie in allen Armeen dieser Welt, die einzelnen Waffengattungen nicht grün: Die Luftwaffe für die V 1 und das Heer für die V 2 konkurrieren erbittert um die Priorität bei Hitler, das heißt um Geld, Rohstoffe, Arbeitskräfte. Gefährlicher noch ist der Machtkampf zwischen dem Reichsführer SS Heinrich Himmler und dem Rüstungsminister Albert Speer. Himmler hat sich in den Kopf gesetzt, die deutsche Rüstungsindustrie unter dem Dach der SS anzusiedeln, dazu gehört auch und vor allem die Kontrolle über die Raketen-Anlagen in Peenemünde.
Dazu mußten der einflußreiche Wernher von Braun und zwei seiner führenden Mitarbeiter beseitigt werden, die alle drei an ihrer Vorliebe für das Heer keinen Zweifel gelassen hatten. Nicht weil sie besonders loyal waren, sondern weil sie sich beim Heer größere Handlungsfreiheit ausrechneten als bei der SS. Daß von Braun seit 1940 Mitglied der SS war, spielte dabei keine Rolle. Die Raketenversuchsanstalt war eine Einrichtung des Heeres, und hier hatte er seine Arbeitsmöglichkeiten. Ob Himmlers Coup gelingen würde, war nicht abzusehen, und von Braun war stets gern auf der sicheren Seite. Diesmal gelingt das nicht: Am frühen Morgen des 15. März 1944 werden die drei Wissenschaftler von der Gestapo verhaftet und unter dem Vorwurf des Hochverrats in das Stettiner Gestapo-Gefängnis gebracht. Sie hätten sich »vor Zeugen« defaitistisch über den Kriegsausgang geäußert und lauthals über ihren dringenden Wunsch diskutiert, »ein Weltraumschiff zu bauen und kein Mordinstrument«.
Das hätte schiefgehen können, Wernher von Braun und Kollegen wären nicht die ersten gewesen, die »auf der Flucht erschossen« werden. Dem Kommandeur der Raketenversuchsanstalt, General Walter Dornberger, gelingt es weder bei Himmler, noch bei Generalfeldmarschall Keitel, Chef des OKW, seine wichtigsten Mitarbeiter freizubekommen. Da ist HG gefordert. Er gehört zum Heer, und er klemmt sich hinter
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