Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
liegen die Luftlagekarten, auf Pappe aufgezogen mit eingezeichneten Einflugschneisen in Rot. Else schreibt ins Kindertagebuch, daß sie die Labilität ihrer Nerven spürt: »Es sind so viele Menschen im Haus, und ich scheuche sie sicher zu oft in den Keller, aber ich muß sie beieinander haben.« Sie selbst bleibt meistens oben am Radio, die Ziele liegen, noch, am Rande der Stadt – die Junkers-Werke, der Flugplatz, der Güterbahnhof, die Kasernen.
Daneben läuft das Leben weiter mit beglückender Banalität. Die vielen geparkten Kinder im Haus, alle so in Sabines Alter, die ist jetzt zehn, haben den Sport für sich entdeckt und gehen bevorzugt auf Händen. Ich nicht, ich bin zu klein und wußte damals schon, daß Sport gesundheitsschädlich ist. Sie lesen im Luftschutzkeller »Tom Sawyer« vor und »Huckleberry Finn«, Ursula tut das, und da können draußen die Bomberverbände dröhnen, erst müssen Tom und Becky heil wieder aus der Höhle rauskommen. Einer dieser abgelegten Schützlinge, aus Nürnberg kommt er, hat zum Staunen aller anderen Kinder einen Bandwurm, Else: »Jetzt weiß ich, wo unsere Lebensmittel-Marken geblieben sind!« Ursula erwartet ein Baby und strahlt, es wird immerzu gesungen, ich vermute, das sind auch jetzt noch Hitler-Lieder.
In der deutschen Welt brechen die Fronten ein. Italien hat dem Reich den Krieg erklärt, am 6. Juni 1944 landen die Alliierten in der Normandie, 438 000 Juden aus Ungarn werden nach Auschwitz deportiert. Die 60-Stunden-Woche bei völliger Urlaubssperre ist die neue Umsetzung des von Goebbels vor Jahresfrist verkündeten »totalen Kriegs«. In Frankreich liquidiert die Waffen-SS-Division »Das Reich« das Dorf Oradoursur-Glane, alle Bewohner werden ermordet als Vergeltung für verstärkte Aktivitäten der französischen Résistance.
HG fährt Anfang Februar 1944 dienstlich nach Mauerwald in Ostpreußen, wo sich das OKH aufhält, wenn Hitler in der benachbarten Wolfschanze residiert. Da trifft er die vier Männer, in deren Kielwasser er ein halbes Jahr später vor den Volksgerichtshof gerät: Generalmajor Hellmuth Stieff ist Chef der Organisationsabteilung im Generalstab des Heeres. Bernhard ist sein Gruppenleiter II, Nachfolger von Claus Graf Stauffenberg auf diesem Posten. Dann sind da noch Bernhards Mitarbeiter Major Joachim Kuhn und Bernhards enger Freund Oberleutnant Albrecht von Hagen.
Die vier sind gemeinschaftlich mit der Sprengstoffbeschaffung für das Attentat auf Hitler befaßt, und ich kann nicht beurteilen, ob sie schon – oder erst – an diesem Abend in Ostpreußen mit HG darüber reden. Daß es keine Unterlagen gibt, versteht sich von selbst – das Wesen der Konspiration ist Geheimhaltung. Im Urteil des Volksgerichtshofs gegen HG und Bernhard steht, HG sei erst am 10. Juli in Berchtesgaden eingeweiht worden, aber das sagt gar nichts. Im Urteil steht eine Menge dummes Zeug. Viel spricht dafür, daß HG über die seit etwa zwei Jahren laufenden Attentatsplanungen informiert ist – Versuche hatte es schon 1938 und früher gegeben. Die Liste der im Zusammenhang mit dem 20. Juli hingerichteten Männer liest sich wie ein Auszug aus HGs Adreßbuch. Informiert-Sein heißt aber nicht Beteiligt-Sein. HG hat, so weit bin ich mir sicher, an keiner Planung teilgenommen, er war Mit-Wisser, nicht Mit-Täter. Anders die vier Männer, mit denen er an diesem Abend in Mauerwald zusammensitzt, die sind aktiv und praktisch beteiligt.
Ich möchte nicht die Verschwörung des 20. Juli beschreiben, nicht ihre militärischen und ihre zivilen Aspekte, nicht die Planungen und die Versäumnisse, die das Scheitern bewirkten. Das ist vielfach und kompetent geschehen. Ich möchte auch nicht über die politischen Vorstellungen der Opposition für »die Zeit danach« diskutieren, über ihr rudimentäres Demokratie-Verständnis etwa und ihre Rückwendung zu monarchischen Strukturen. Ich erinnere mich statt dessen an meine Ungeduld in früheren Jahren, als ich mich immer wieder fragte: Warum so spät? Es war nicht spät. Es war erfolglos. Schon 1939 haben Männer wie Henning von Tresckow und Fabian von Schlabrendorff sich dazu bekannt, »daß Pflicht und Ehre von uns fordern, alles zu tun, um Hitler und den Nationalsozialismus zu Fall zu bringen und damit Deutschland und Europa vor der Gefahr der Barbarei zu retten«. Beide haben später in der Heeresgruppe Mitte, wo auch Bernhard war, die Umsturzplanungen intensiv betrieben.
Ihr Widerstand und der vieler anderer Offiziere
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