Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
Vertrauen gar nicht so viel geredet zu werden braucht, weil es eben ganz einfach da ist.« – »Freitag früh. Etwas zerknittert aufgewacht nach höchst albernen Träumen – viele entzückende Frauen, Segelboote, Rodelbahn, nur Du immer als schrecklich drohendes Gorgonenhaupt mich am Zupacken hindernd…!«
Mir wird hundeelend, wenn ich das lese. Beide sind sie bis an die Grenzen ihrer Kräfte belastet – Else, wie alle gebeutelt von Ängsten wegen des Kriegsverlaufs, hat das Haus voller Bombenflüchtlinge, Familie und Freunde aus ganz Deutschland, das bedeutet jeden Tag 19 Menschen zum Essen. Jochen, gerade 18 geworden, ist als Soldat nach Frankreich verfrachtet worden – »ein Kind in Uniform«, empört sich Else. Bei Barbara wird ein Herzfehler festgestellt, sie muß fest liegen, und die einschlägigen Ärzte sind an der Front. Ursula stürzt in Berlin aus einem überfüllten Bus und wird mit einer schweren Gehirnerschütterung und einer Fehlgeburt von Bernhard in Halberstadt abgeliefert. Todtraurig ist sie, weil sie ihr Kind und ihre Glücks-Wohnung in der Brückenallee verloren hat. Dagmar Podeus, die unverwüstliche Dagmar, hat sich durchgelegen, sie bekommt eine Lungenentzündung und darf immer noch nicht sterben. Kurt, den kenntnisreichen Kurt, scheuchen Anfälle geistiger Umnachtung durch sein Haus, in dem er sich nicht mehr zurechtfindet. Gertrud, die sowieso am Stock geht, fällt die Treppe runter und bricht sich den Knöchel – alles hängt an Else.
Sie kann sich nicht ausruhen bei HG, und er sich nicht bei ihr. Da ist eine unüberbrückbare Kluft aufgebrochen, liegen Verletzungen im Weg, die trotz der allgemeinen Düsternis nicht relativiert werden, sondern die Unerträglichkeit noch steigern. Ein zusätzliches Schmerzzentrum – für beide. Mir steigen die Tränen auf, wenn ich sehe, daß Else nicht verzeihen kann – sie hat doch so oft verzeihen müssen! Else – bitte! – noch ein einziges Mal! Du wirst dich quälen dein Leben lang, daß du HG jetzt, ausgerechnet jetzt verlassen hast. Ich kann Else alles nachfühlen nach den hanebüchenen Eskapaden dieser Zweisamkeit, die seine waren, nicht ihre. Jetzt aber brauchen sie einander. Beide kämpfen bis zur emotionalen Erschöpfung, beide fühlen, daß der Verlust des anderen mehr ist als sie verkraften können. Doch Else ist außerstande, ihn zu verhindern. Sie kann nicht, weil sie nicht weiß, daß der Verlust endgültig und fürchterlich sein wird und das ganz bald. Sie ahnt das nicht, denn HG ist in Berlin relativ sicher. Vielleicht hätte sie anders handeln können, wäre er an der Front in täglicher Gefahr gewesen. Ich lese bei HG: »Für den Sonntag nehme ich mir Arbeit mit in den Garten, denn Du willst mich ja nicht zuhause haben« und »ich strecke die Hand aus und fühle Dich ganz nah bei mir«. Diese Sehnsucht, beider Sehnsucht, wird sich nicht mehr erfüllen.
Weil das Gebäude in der Jebensstraße ausgebrannt ist, zieht HGs Dienststelle in ein Ausweichquartier nach »Tanne«. Das ist der Deckname für eine ehemalige Unteroffiziersschule in Eiche bei Potsdam, ein ungemütliches und verwanztes Ding aus den 20er Jahren. HG muß mit der S-Bahn bis Potsdam fahren und dann durch den Park von Sanssouci eine dreiviertel Stunde zu Fuß gehen, was ihm auf die Dauer zu mühsam ist, vor allem jetzt im Winter. Also zieht er ganz nach »Tanne«, zwängt sich mit Sack und Pack in ein Kasernen-Zimmerchen, die Mannschaftsdusche – »nur kaltes Wasser!« – ist um die Ecke, und HG erinnert sich tapfer daran, daß man »im Felde« auch nicht besser wohnt.
Ein Problem ist, daß von hier aus nur dienstlich telefoniert werden kann, was die Kommunikation mit Halberstadt ungemein erschwert. Else muß, wenn sie etwas Dringliches mitzuteilen hat, über den Standortkommandanten in Halberstadt gehen, der dann über die militärische Leitung »OKW-Vermittlung Adele App 125« HG Bescheid sagt. »Das ging in Pleskau auch nicht anders«, versucht HG sie zu beruhigen, ohnehin brauchen Ferngespräche von Privat-Telefonen inzwischen zehn und mehr Stunden Voranmeldung. Auch innerhalb Berlins kann HG nicht eben mal bei Freunden oder beim Zahnarzt anrufen, das ist ein deutlicher Verlust an Lebensqualität. Die Versorgungslage ist katastrophal, die Lebensmittelrationen für die Bevölkerung sind wieder gekürzt worden, und das Essen in Tanne verschlingt einen Haufen Marken bei »unterirdischer Qualität«. In jedem Brief schreibt HG, daß er Hunger hat.
Er
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