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Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)

Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)

Titel: Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wibke Bruhns
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diesen Dimensionen waren neue Kommunikationswege gefragt. Ich kenne das Haus nur hoffnungslos überfüllt mit Flüchtlingen und den ausgebombten Verwandten, und selbst zu der Zeit gab es Winkel und Schlüpfe, wo man sich verstekken konnte. Ich mag die Vorstellung, daß Kurts vier Kinder in der häuslichen Weitläufigkeit verschwinden und niemand sie auftreiben kann, denn auch sie werden die Fluchtmöglichkeiten über Tapetentüren und verborgene Treppen erkundet haben. Aber ob sie die auch nutzten?
    Es war ja nicht so wie heute, wo Kinder nach dem – vielleicht – gemeinsamen Abendessen in ihre Zimmer retirieren, um ihre Fernseher, Computer, Videospiele anzuwerfen. Damals hieß »du gehst auf dein Zimmer!« Strafe, Ausschluß. Die Regel und familiäre Harmonie war die Gemeinsamkeit um den Wohnzimmertisch – Vorlesen, Spiele, Gespräche. Und das hatte nicht nur damit zu tun, daß in vielen Haushalten lediglich ein Raum geheizt war und man sich im Schlafzimmer eine blaue Nase fror. In HGs und meinem späteren Elternhaus gab es von Anfang an Zentralheizung, die, wenn denn Kohlen aufzutreiben waren, bis 1995 funktionierte und es wahrscheinlich noch Jahre getan hätte, wäre nicht statt Kohle Erdgas installiert worden. Man fror also nicht in seinem Zimmer – oder doch. Man war nicht zugelassen, geächtet, vereinsamt. Und das war schlimm.
    HG allerdings hat sich eine Zeitlang selbst so abgeschottet. Er hat früh stark pubertiert – Gertrud hätte das zwar nie so ausgedrückt. Aber sie beklagt sein »verschlossenes, wenig liebenswürdiges Wesen«, macht sich Sorgen um »finstere Falten auf Deiner Stirn«, und ein Foto des knapp 15jährigen zeigt in der Tat ein kläglich zerrissenes Kerlchen mit erstem Bart-Schatten und deutlichen Akne-Spuren. Dagegen hilft Sport, vor allem Reiten. Er besitzt ein Doppelpony – HG ist klein und wird auch als Erwachsener nicht größer als ein Meter 75 –, und mit diesem Pferd geht er oft allein ins Gelände. Am schönsten aber sind offenbar die Ritte vor Tau und Tag mit dem Vater. Da reden die beiden über Gott und die Welt, die Kurt dem Junior geduldig erklärt. Die »Welt« ist vorwiegend die Firma, aber auch Fauna und Flora der Harzer Gegend, Jagdregeln und Kurts Erfahrungen in den USA, im bewunderten England und in der Karibik, wo I. G. Klamroth an einer Phosphatmine beteiligt ist.
    Der Sohn erfährt, daß die klassenkämpferischen Theaterstücke Gerhart Hauptmanns Gift fürs Volk seien, Kurt lenkt sein Augenmerk auf den Maler Adolph Menzel – »im Gegensatz zu Max Liebermann«, und den Spötter Heinrich Heine »muß er wirklich nicht lesen«. Ich kann nicht beurteilen, ob Kurt damit gezielt zwei Juden beiseite geschoben hat – Juden waren in seiner Diktion »die Verwandten Abrahams«. Der erwachsene HG jedenfalls hat sowohl Liebermann wie Heine geliebt.
    Auch der schwierige Umgang mit Mädchen wird besprochen, die auf HG einen angstbesetzten Reiz ausüben, und bei einem solchen Frühritt wird er von seinem Vater aufgeklärt. Das war 1909, HG ist elf und er beschreibt nach dem Krieg in einer Gedenkschrift für seine drei gefallenen Vettern, wie er den älteren Jungs im gemeinsamen Schlafraum auf Juist durch seine Kenntnisse imponieren konnte. Eine Zeitlang reden Vater und Sohn zu Pferde eine Art Küchen-Latein – »in silva copia fossarum est. Aqua est in fossis. Aqua puerum delectat. Puer bestiis in silva insidias parat«. Na bitte. HG war monatelang krank gewesen und hatte in der Schule viel versäumt, und die »Bestien«, denen er hier lateinisch einen Hinterhalt bereitet, sind Salamander, die er aus den »fossis« = Gräben fischt für sein Aquarium.
    Kurt war ein fordernder, aber auch ein zugewandter Vater, und aus der über Jahre währenden morgendlichen Zweisamkeit wuchs HGs tiefe, durch großen Respekt bestimmte Liebe zu ihm, um dessen Anerkennung er zeit seines Lebens warb. Er kopiert ihn von der Handschrift bis hin zur Körpersprache – Kurts jüngste Schwester beschreibt den »großen und den kleinen Mann«, wie sie nebeneinander »ein Ei dem andern gleich in männlichem Wiegeschritt durch den Garten flanieren«.
    Noch Weihnachten 1921 – HG ist 23 und hat immerhin drei Jahre Kriegsdienst, Lehrzeit und einen längeren Aufenthalt in der Phosphat-Besitzung Curaçao hinter sich – schickt er dem Vater Gereimtes:
    Ach wüßtest du doch, wie ich mich bemühe,
dein Sohn zu werden, nicht nur, wie ich’s bin
nach Fleisch und Blut; nein – daß mich kräftig

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