Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
ziehe
dein Wesen immer mehr nach oben hin.
Rittmeister Kurt Klamroth
Z WEI
J ETZT IST K RIEG . Heute ist kaum mehr nachzuvollziehen, weshalb eine alte Kumpanei mit Österreich Deutschland in einen derart heillosen Flächenbrand getrieben hat. Tatsache ist: Jeder wollte diesen Krieg aus unterschiedlichen Gründen, und Krieg – in der Erfahrung des vorangegangenen Jahrhunderts jeweils kurz, nicht schmerzfrei, aber irgendwie »reinigend« – war in der Vorstellung aller Beteiligten nichts anderes als der Weg zu einem schnellen und profitablen Sieg. Trotzdem bleibt zu staunen über den unbeschreiblichen Jubel, den der Beginn dieses verheerenden Waffengangs überall in Europa ausgelöst hat. Auch bei Kurt, auch bei dem knapp 16jährigen HG.
Mobilmachung ist am 1. August 1914, ein Sonntag. Kurt, Rittmeister der Reserve, geht mit all seinen Lieben vormittags noch in die Kirche, zum Mittagessen ist er schon im »feldgrauen Rock«, anschließend fährt er »mit drei Hurras auf Kaiser und Vaterland« zum Tor hinaus. So steht es in seinem Kriegstagebuch, und da lese ich auch, daß »sich unser Kaiser, von heiliger Friedensliebe beseelt, bemüht hat, Europa vor den Schrecken dieses Krieges zu bewahren«. Das ist ziemlich richtig, nur war Wilhelm II. nicht mehr wirklich Herr im eigenen Haus. Das war auch Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg nicht. Das Sagen hatten die Generäle, und die hatten diesen Krieg über Jahre vorbereitet: »Deutschlands in langer Friedensarbeit geschliffenes Schwert« – so Kurt – »fliegt aus der Scheide, um das Vaterland zu schützen.«
Unterwegs zu seinem Mobilmachungsort Berlin werden Kurt und sein Fahrer immer wieder aufgehalten von jubelnden Menschen, die dem Uniformträger Blumen ins Auto reichen, von Fahnen und spontanen Umzügen auf den Straßen. In Berlin wartet die erste Enttäuschung auf ihn. Er wird eingeteilt als Führer einer Versorgungseinheit – Etappen Train Escadron Nr. 1, Garde –, die in Eile zusammengestellt wird und sofort nach Belgien soll. Kurt »hatte sich immer gewünscht, in einem Feldzuge einmal mit meinem alten Regiment, den Halberstädter Kürassieren, kämpfen zu können, aber eigene Wünsche müssen schweigen« – außerdem ist er 42.
Belgien wird ohne Kriegserklärung überfallen, und die empörte Bevölkerung greift hinter der Front zu Küchenmessern und Gift. Das trifft vor allem die langsame Etappe, und jetzt ist es vorbei mit allem, was Kurt aus Manövern und den kriegerischen Gesellschaftsspielen mit den Kindern auf Juist kennt. Entgeistert notiert er in seinem Tagebuch, daß »belgische Bauernweiber« Brunnen kontaminieren, Feldköche mit unter der Schürze verborgenem Schlachtgerät massakrieren und der deutschen Einquartierung, die nachts ihre Schlafzimmer okkupiert, im Morgengrauen die Kehlen durchschneiden.
Mit der Haager Landkriegsordnung hat das wenig zu tun. Auch nicht das »Franctireurs-Pack«, Freischärler, die in Wäldern und unübersichtlichen Schluchten Hinterhalte legen, oder jene »gebildeten Leute!! Rechtsanwälte, Apotheker«, deren Mansarden in Kleinstädten zu Schießständen werden. Kurt stellt selbst bei in Belgien requirierten Pferden einen schlechten Charakter fest: Ein Wallach beißt einem seiner Soldaten ein Ohr ab, zwei andere Gäule keilen derart rabiat, daß sich niemand an sie herantraut und sie erschossen werden müssen. Hat Kurt tatsächlich erwartet, daß die in ihrer Souveränität verletzten Belgier freundlich die Straßen freimachen, wenn riesige Armeen durch ihre Städte ziehen, ihre Bahnlinien und Kanäle für Truppentransporte beschlagnahmen, ihre Keller und Scheunen leeren für die Verpflegung von zig Tausenden hungriger Soldaten? Hat er wohl. Denn Kurt findet die Belgier »gemein«.
»Gemein« findet er auch seine vormals geliebten Engländer, die gar nicht anders können als gegen Deutschland in den Krieg zu ziehen wegen der Verletzung der belgischen Neutralität. Zwar »kämpfen die wie die Teufel«, muß Kurt anerkennen, sie »hissen aber auch mal die weiße Fahne, um dann deutsche Soldaten, die ihnen arglos entgegenkommen, mit ihren Maschinengewehren reihenweise nieder zu mähen«. Außerdem verwende »das perfide Albion« Dum-Dum-Geschosse, gruselige in der Nähe von Kalkutta gefertigte Splittermunition, die schwer heilbare Muskelverletzungen bewirkt und durch die Haager Konvention streng verboten ist. Kurt schickt mehrfach solche Höllenklöpse als Andenken nach Halberstadt.
Sein Glaube
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