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Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)

Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)

Titel: Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wibke Bruhns
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Kerzen auf den Weihnachtsbäumen – fünf sind es im großen Saal auf der Woort bei den Großeltern –, und wenn HG feststellt, daß ein Baum weniger Kerzen hat als der andere, quengelt er, daß dies ausgeglichen werden soll. Zahlen sind seine Leidenschaft lange vor der Schulzeit, und beide Eltern sehen beglückt auf den vielversprechenden Erben I. G. K.
    Mit dem Namen ist das so eine Sache. Getauft ist mein Vater Johannes Georg, genannt wird er Hans Georg mit der Betonung auf der zweiten Silbe – also nicht Georg wie Büchner oder der Heilige. Und dieses Doppel-Ding verkürzt sich zeit seines Lebens nicht auf eins von beiden oder etwas Drittes. Denn HG hatte keinen Spitznamen, in der Schule nicht, nicht beim Militär oder in der Ausbildung. Seine Schwester Anna Marie hieß immer »Annie«, die andere Schwester Erika kannte jeder nur als »Ka’chen«. Die ist übrigens die einzige, die HG gelegentlich »Nonno« nennt, aber durchgesetzt hat sich das nicht. Der Kronprinz schlägt sich schon in der Baby-Sprache mit seinem Namen herum: »Hann-Org« nennt er sich selbst laut Kindertagebuch. Ich stelle mir vor, wie unhandlich es gewesen sein muß, hinter ihm her zu rufen. »Hans Ge-ohorg!« – das läuft ja nicht. Ich probiere, den kantigen Namen mit Zärtlichkeit auszupolstern. Das wird auch nichts Richtiges. Doch für seine spätere Frau Else hat er immer so geheißen.
    Die Familie – Eltern, vier Kinder, zahlreiches Personal und fünf Pferde – zieht 1911 um an den Bismarckplatz in ein von dem damaligen Mode-Architekten Hermann Muthesius aufwendig gebautes »Landhaus« mit riesigem Garten. Dort gab es das sandstein-ummauerte Goldfisch-Becken, in das jedes der Kinder und Enkel – ich auch – irgendwann mal reingefallen ist. Es gab einen Rasen zum Boccia-Spielen, groß wie ein Fußballfeld, jedenfalls sah ich das damals so. Ich bin geboren in diesem Haus, und auf dem Balkon vor meinem Zimmer ist mein Kaninchen gestorben. Es gab hinter hohen Silberpappeln ein Tennishaus und einen Tennisplatz – in der Besatzungszeit hatte die sowjetische Kommandantur dort ihre Briketts gelagert, die wir nächtens klauten.
    Es gab einen Spielplatz mit Schaukel, Sandkiste und Turngeräten – Ringe für Riesenwellen und einen Barren. Das hatte man damals. Es gab das Baumhaus unterhalb der Krone einer mächtigen Kiefer, und es gab den Longierplatz für die Pferde. Es gab Stachelbeerbüsche und einen Rosengarten, dessen Beete in der Form der englischen Flagge angelegt waren. An seiner Ecke stand – und steht heute noch – das »Tempelchen« mit Kuppeldach und Bogenfenstern. Das Haus hat den Bombenkrieg überlebt und war zu DDR-Zeiten und ist heute wieder ein Hotel – dazwischen liegen Welten.
    Entlang prachtvoller Staudenbeete stand in Großeltern Kurt und Gertruds Garten eine weiß gestrichene Holz-Pergola, überwuchert von wildem Wein. Ich bin drei Zeitalter später, als Margariten und Rittersporn längst durch Schnittbohnen und Rotkohl ersetzt waren, beim Klettern auf dem Gestänge eingebrochen – die morschen Streben hielten selbst ein Kind nicht mehr aus. Es gab – und gibt noch – die mit »Paderborner Riemchen« weiß gepflasterte Terrasse rund ums Haus mit ihren ausladenden Sandsteinmauern, über die man sich lehnte, um ein paar Meter tiefer Garten und Goldfischbecken zu betrachten.
    Auf dieser Terrasse haben die Kinder, auch ich, Wettrennen mit Holzfahrzeugen veranstaltet – »Holländer« hießen die und wurden mit Handhebeln bewegt. Fotos zeigen den jungen HG, wie er ein kompliziertes Segelgefährt auf dieser Terrasse in Gang setzt. Fotografiert worden sind hier auch die zum Spalier angetretenen Hilfs-Frauen, zehn, zwölf an der Zahl in schwarzen Kleidern mit Spitzenhäubchen, die sich bei den vielen Festen um das Wohl der Gäste kümmerten. Hier standen im Sommer riesige Hortensien in Holzkübeln, die in einer »Orangerie« in der Firma überwinterten. In die Rhododendronhecke jenseits der Mauer habe ich nach dem Krieg die von mir verabscheuten, in Zeiten der Mangelernährung so kostbaren Lebertran-Kapseln entsorgt und wurde dafür furchtbar verprügelt.
    Das Haus selbst: Zimmer über Zimmer, Kutscherwohnung, komfortable Dienstbotenunterkünfte, herrschaftliche Küche mit Anrichten, Speisekammern, Waschküchen, Vorratskellern. Remise, Pferdeställe, Heuboden. Bei Kriegsende 1945 kampierten hier inklusive Flüchtlingen und ausgebombten Verwandten 58 Menschen, darunter fast 20 Kinder. Außen

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