Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
»tapfer« nicht ohne Auflehnung hören. Aber wie sollte Kurt denn ahnen, wie viel »Tapferkeit«, wie viel »Mann« von seinem Sohn in Plötzensee gefordert werden würde?
Es ist überhaupt oft von »Leistung« die Rede im Kindertagebuch, von »Übung für später« im Spiel – das kennen wir doch. Das Spielzeug vom Vorläufer des »Memory« bis zu »Pullock«, etwas Ähnlichem wie später »Scrabble«, ist genauso pädagogisch wie heutiges Lernmaterial. Es tauchen allerdings die Vokabeln »brav«, »artig«, »folgsam« häufiger auf, als wir sie benutzen würden, und Lob wird verteilt, wenn der Junge es den Eltern recht macht. Ohnehin wünschen beide immer wieder, der Sohn möge seinen Eltern und Großeltern »viel Freude bereiten« – es ist nicht wirklich festgehalten, daß er selbst sich an seinem Leben freuen solle.
Ich denke mal, das ist nicht herzlos – jedenfalls nicht so gemeint. Es ist diese Zeit, die Eltern so sprechen läßt. Es ist die Angst, »kleine Männer« zu verzärteln, und der Mangel an Knuddel-Wärme ist allgegenwärtig in den wilhelminischen Jahren. »Schneidig« sollten die Kerle sein, getreu Nietzsches Zarathustra »Gelobt sei, was hart macht« – bei Hitler hieß das später »hart wie Krupp-Stahl«. Ehre war wichtiger als Liebe, es sei denn die für Kaiser und Vaterland, und dem Tod sah man wenig später »freudig ins Auge«. Ich fürchte, das waren nicht nur Floskeln.
HG wird schon früh für diese Welt trainiert. Er ist gerade zwei, da steht im Kindertagebuch, daß im Garten unter Kurts Anleitung »mit Gewehr und Fahne marschieren geübt« wird. Auch »Kaiser-Parade« darf er spielen – der Steppke reitet auf Vaters Schultern, Gertrud mimt den Kaiser, und der Junge salutiert vor ihr. Zu Weihnachten 1907 werden beide Söhne in Kürassier- und Ulanenuniformen herausgeputzt, und das königliche Domgymnasium veranstaltet groß angelegte »Kriegsspiele« im Gelände, wo Kurt als »Unparteiischer« zwischen den Fronten hin- und herreitet.
Kriegsspiele sind auch die Hauptbeschäftigung während der jährlichen Sommerferien auf der Nordsee-Insel Juist, wo immer eine Menge Vettern, Kusinen und Freunde versammelt sind. Vater Kurt zeichnet komplizierte Einsatzpläne der »blauen Compagnie« gegen die »rote«, und die vielen Kinder in ihren unvermeidlichen Matrosen-Anzügen »patrouillieren, erstürmen, verteidigen« den »Lembkehain« vor dem Frühstück, schwer bewaffnet mit von Kurt »aus Hannover« herbeigeschafften Heureka-Gewehren und -Pistolen. Das sind Waffen, aus denen Pfeile mit Gummikappen abgeschossen werden – die können schon mal ins Auge gehen. Nach getanem Felddienst »marschieren die jungen Krieger im Takt von Querflöte und Trommel zum Strande«, wo es dann endlich Frühstück gibt.
Auch die halbwüchsigen Mädchen sind organisiert. Auf einem Foto in HGs Sommertagebuch vom Juli 1913 paradiert »das Grüne Amazonenkorps« in eindrucksvoller Formation am Strand. Uniformen, Fahnen, Appelle, mindestens vier Stunden »Dienst« am Tag halten die Kinder-Soldaten auf Trab, und auf den Bildern sind Scharen von Erwachsenen zu sehen, die in ihrem Urlaub offenbar nichts Besseres zu tun haben als Geländespiele und Paraden zu veranstalten. Vater Kurt wird »Ehrenkommandeur« und »muß von allen gegrüßt werden«, wie sein Sohn voll Stolz notiert.
Sie spielen tatsächlich Krieg. Der letzte liegt mehr als 40 Jahre zurück. Er war kurz, verlustarm und siegreich gewesen, er begründete das Kaiserreich und Deutschlands Größe. Keiner der Spieler hatte ihn anders erlebt als in den gewaltigen Fahnen-Aufmärschen am Sedanstag – was ist schlecht am Krieg? Wer konnte ahnen, daß nun ein Krieg im Werden begriffen war, der vier Jahre dauern sollte, 1,8 Millionen Deutsche das Leben kosten – darunter drei von HGs Vettern und Juister Spielkameraden, noch halbe Kinder – und 4,25 Millionen Verwundete zurücklassen würde? Wer wollte sich vorstellen, daß am Ende dieses Krieges in vier Kaiserreichen die Monarchie untergehen, die deutschen Könige, Herzöge und Fürsten in der Versenkung verschwinden könnten? Daß ihre schwarzweißrote Fahne, hinter der Kurt und seine Lieben so glücklich hermarschierten, jemals durch das ihnen so suspekte Schwarzrotgold von 1848 abgelöst werden würde?
Sie lebten in ihrer Ewigkeit. Für Kurt und die Seinen war sie fest gemauert im neuen Sandsteinhaus am Bismarckplatz, worin die Familie anfangs wie Murmeln herumgetrudelt sein muß, denn in
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