Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
Krieg, bloß daß manchmal einer verhaftet und totgeschossen wird. Neulich war hier großes Geschrei und Geschieße, und es wurde gemeldet, daß es ein Russe sei, der Telegraphendrähte durchschneiden wollte. Es ist ihm aber nicht gelungen. Mehr weiß ich nicht zu schreiben. Es grüßt Dich herzlich Dein Sohn Kurt Klamroth.«
Der Junge ist zehn, und er wird sich das nicht ausgedacht haben. Wie habe ich mir das vorzustellen? Wir sind im Herbst 1914 in einer Kleinstadt mitten in Deutschland. Der Krieg ist gerade drei Monate alt, seine Schauplätze sind weit weg, und daß kleine Jungs ihren patriotischen Eifer beim Bierholen für Polizisten austoben dürfen, dagegen spricht ja nichts. Aber wer wird warum verhaftet und totgeschossen ausgerechnet in Halberstadt, und wie kommt ein russischer Saboteur in die Magdeburger Börde?
Gertrud leitet die Rotkreuz-Hilfe im Lazarett. Jetzt schon wird da jede Hand gebraucht, weil täglich neue Verwundeten-Transporte eintreffen. In Halberstadt! Tausend Kilometer sind es Ost wie West zur jeweiligen Front, wie mag es da erst in Ostpreußen oder im Rheinland aussehen? Kurt muß mit seinen Pferdewagen häufig Hunderte von Verwundeten zu Bahnstationen schaffen und schreibt von riesigen Gefangenen-Zahlen – 90 000 Russen nach der Schlacht bei Tannenberg, viele Zehntausende Engländer und Franzosen an der Westfront. »Daß die alle ernährt werden müssen«, so Kurt, »verschärft die Lage bei dem schleppenden Verpflegungsnachschub immer mehr.« Hunger – schon im Winter 1914/15 ist dieser Kriegsgegner am Horizont erkennbar und wird die Deutschen über die Jahre immer stärker unter Druck setzen.
Auch am Bismarckplatz haben sie Einquartierung. Gertrud schreibt von zwei jungen Leutnants, die ärgerlicherweise nie das Licht ausmachen und außerdem ihren Hausmädchen »nachstellen«. Sie müsse »sehr streng« mit ihnen sein – man wüßte ja gern, ob die jungen Damen Mittel und Wege gefunden haben, solche Strenge zu umgehen. Im übrigen werden Lebensmittel gehortet, vor allem Liebesgaben gepackt für die Front – zu Weihnachten gehen 120 Päckchen raus, für jeden in Kurts Kolonne eins. Nur kommen sie nicht an. Auch die Pakete für Kurt erreichen selten ihr Ziel, und ihm »läuft das Wasser im Mund zusammen, wenn ich die Inhaltsangaben sehe«. Die kennt er aus der normalen Feldpost, und so weiß er jetzt, »wie es Tantalus ging. Er hat mein Mitgefühl.«
Kurt und seine Männer werden an die Ostfront verlegt: »Hindenburg braucht Kolonnen.« Jubel löst die Nachricht nicht aus, »aber der Soldat tut überall mit gleicher Freudigkeit seine Pflicht«. Behauptet Kurt. Die Soldaten bekommen Pelze, warme Unterwäsche und gefütterte Stiefel, »so daß jeder Einzelne das Gefühl hatte, die Heeresleitung versorgt uns gut, und dieses Gefühl verlieh jedem Sicherheit und Zuversicht«. Sagt Kurt. Nach 1300 Kilometern Marschleistung im Westen, mit 60 Fahrzeugen, 162 Pferden, minus vier Mann – einer ist vermißt, drei liegen im Feldlazarett – geht es ab nach Osten. Es ist der 30. November 1914.
Und es ist, wie es immer ist in Rußland. Kurt und seine Leute versinken wie weiland Napoleon und später Hitlers Truppen im unergründlichen Schlamm der endlosen Ebenen. Gemessen daran sind die deutsch-österreichischen Erfolge erstaunlich. Ende September 1915 verläuft die Frontlinie von der Bukowina bis zur Rigaer Bucht, das heißt, ein Areal mehrfach größer als die alte Bundesrepublik ist besetzt.
Kurt bekommen die Strapazen nicht – eine alte Amöben-Ruhr, die er sich vor Jahren in Curaçao geholt hatte, bricht wieder auf, und zu Pfingsten 1915 muß er sich operieren lassen. Er läßt das in Halberstadt machen, und auf dem Weg dahin staunt er über die Veränderungen in der Heimat. »Deutscher war alles geworden«, schreibt er ins Kriegstagebuch. »Da prangte nicht mehr über dem Prachtbau am Potsdamer Platz das goldene Schild ›Café Piccadilly‹, statt dessen hieß das jetzt schlicht ›Vaterland‹«. In der »Elektrischen« taten statt Schaffner jetzt Schaffnerinnen Dienst, und »aus dem Postgebäude ergoß sich eine Schar fröhlich schwatzender weiblicher Briefboten«.
Zu Hause angekommen erfährt er mitten in der Nacht einen schönen Triumph: »Nie werde ich vergessen, liebe Frau, wie ich den Mantel auszog und Du auf meiner Brust das Kreuz von Eisen sahst – wie Du mich da anschautest!« Die Nachricht, daß ihm das EK II verliehen worden war, war nicht bis nach Halberstadt
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