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Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)

Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)

Titel: Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wibke Bruhns
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gar nicht in seinem Nest aus Kuhdung-Häusern vor einem unendlichen Horizont, den sie mit Feldstechern nach Partisanen absuchen. HG hat zwei Windhunde geschenkt bekommen, die er »Lenin« und »Trotzki« nennt, und damit erschöpft sich vermutlich sein Bezug zur russischen Politik. Wie alle Soldaten überall auf der Welt wartet er darauf, daß jemand ihm sagt, was er tun soll, und solange das nicht passiert, langweilt er sich.
    Er geht mit ukrainischen Großgrundbesitzern Trappen schießen. Er überlegt, ob er seines Vaters Pferde »Nelly« und »Lord« aus dem polnischen Bialystok hierher in den neuen Standort nahe Odessa holen soll – sie hatten Kurt durch Belgien, Frankreich, Rußland und in Grodno begleitet und jetzt, wo Kurt in Magdeburg sitzt, besteht Gefahr, daß sie herrenlos in den Kriegswirren untergehen. HG: »Wir sind doch die Polizei für die Ukrainskis. Da bleiben wir bestimmt noch zwei Jahre, und die Pferde würden mir hier sogar nützen.« Er versucht sich an Bach’schen Orgelwerken auf dem lädierten Harmonium und denkt wieder darüber nach, sich mit einem Freund an die Westfront zu melden – »hier bin ich völlig unnütz«. Das schreibt er am 5. Oktober 1918, und er weiß nicht, wie recht er hat.
    An eben diesem Tag erfährt die völlig unvorbereitete deutsche Öffentlichkeit, daß ihr Staat nunmehr eine parlamentarische Demokratie sei, daß sie mit dem Prinzen Max von Baden einen neuen Reichskanzler habe – den dritten innerhalb von 15 Monaten –, daß ab sofort die Sozialdemokraten, das Zentrum und die Fortschrittspartei, also die bisher machtlose Reichstagsmehrheit mit in der Regierung säße. Und was tut die funkelnagelneue Regierung? Als allererstes richten diese »Jammergestalten, Miesmacher, Flaumacher, Unglücksraben und quakenden Unken aus der Tiefe«, wie ein konservatives Flugblatt sie in ihrer neuen Würde begrüßt – buchstäblich am Tag ihres Amtsantritts also richten diese Herren ein Friedens- und Waffenstillstandsgesuch an den amerikanischen Präsidenten auf der Grundlage der besagten 14 Punkte.
    Ist vorstellbar, daß einem ganzen Volk das Herz stehen bleibt? Jeder sehnte das Ende des Krieges herbei, aber zu solchen Konditionen? HGs Entsetzen – zeitversetzt, denn die Zeitungen brauchen eine Weile bis in die Ukraine – wird landauf, landab in ungezählten Variationen durchgespielt: »Aller Stolz, alle Ehre, alle Lebens- und Schaffensfreude ist für unsere Generation unwiederbringlich dahin, da hilft kein Drehen und Deuteln. Haben wir nicht immer gewußt, daß diese Männer nicht stark genug sein würden, um die eherne Notwendigkeit eines für Deutschland siegreichen Krieges einzusehen?« Die Empörung HGs schrillt durch einen Brief nach dem anderen: »Ein so erniedrigendes Friedensangebot hätte man wohl nie dem deutschen Reiche zugetraut – Herausgabe Elsaß-Lothringens, Entschädigung Belgiens, Revision des Ostfriedens! Das Schlimmste aber ist: der frohe Stolz, ein Deutscher zu sein, ist für immer verloren.«
    Alle kriegen was um die Ohren: »Unser Volk war der großen Zeit, die es vorübergehend erleben durfte, eben durchaus unwert und sein natürlicher Instinkt zum Frondienst bricht jetzt wieder durch. Das sieht man ja an diesen ›Vertretern des deutschen Volkes‹. Wir sind doch den ungeheuren Hekatomben« – was der so schreibt in seiner ukrainischen Kornkammer! Hekatomben sind bei Homer Altar-Opfer von 100 Stieren – also: »wir sind doch den ungeheuren Hekatomben unserer Toten schuldig, daß wir weiterkämpfen, auch wenn unser ganzes Land besetzt wäre. Was noch einen Funken Ehre im Leib hat, Männer, Frauen, Kinder (!), wird sich doch lieber totschlagen lassen als sich unterwerfen!«
    Es ist nicht in Ordnung, und HG möge mir verzeihen, daß ich bei diesen Briefen lachen muß. Aber ich sehe den aufgeblasenen kleinen Leutnant – eine Woche später wird er 20 – gemütlich vielleicht nicht, doch weit weg vom Schuß in der Ukraine sitzen und den Verlust des reichsdeutschen Traums verfluchen. Es ist wirklich nicht in Ordnung, wenn ich darüber lache – was habe ich denn rumgetönt mit 20! Für mich war es damals der Marxismus und mir das alles bitterernst. Zum Lachen – heute – ist trotzdem beides. 1918 haben die alle so geredet wie HG, so haben alle geträumt, und Millionen sind dafür gestorben.
    Sie hätten leben können, hätte das Schicksal ihnen Männer wie Ludendorff erspart. Hindenburgs mächtiger Stabschef in der Obersten

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