Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
heimatlichen Weinbergen zustrebt und Friedrich Ebert den Posten des Reichskanzlers übernimmt. 217 Jahre, nachdem der erste Preußenkönig gekrönt und 47 Jahre, nachdem der König von Preußen deutscher Kaiser geworden war, ist die Monarchie in Deutschland Geschichte.
Nirgendwo bei Kurt oder HG ist das Ereignis auch nur mit einem Satz erwähnt. Lediglich Gertrud schreibt am 10. November: »Heute sind wir wirklich in der Republik Deutschland aufgewacht«, und daß sie in der Kirche zum ersten Mal nicht für »unseren Kaiser« gebetet hätten. Wie ist das möglich? Da haben sie ihr ganzes Leben in Ehrfurcht vor der Monarchie verbracht. HG hat schon als Steppke für den Kaiser salutieren gelernt, Kurt in seiner Operetten-Uniform sich als glattgebügeltes Teil des kaiserlichen Ganzen gefühlt. Die drei Hurras auf Kaiser und Vaterland waren ihnen mitsamt der Fahnen und Wimpel Lebensinhalt gewesen, wofür man notfalls den Tod in Kauf nahm. Und jetzt? Nichts. Noch nicht mal ein Nachruf.
Jedenfalls nicht auf den Kaiser. Das Vaterland hält sie in diesen Wochen genügend in Atem, denn so viel Umbruch war nie. In der Kriegsamtstelle bereiten sie heimlich schon mal die Logistik für die Front-Heimkehrer vor – »das ist eine vertrauliche Information. Sprich mit niemanden darüber!« Demobilisierungs-Ausschüsse versuchen, Unterkünfte und Verpflegung für die zurückflutenden Soldaten bereitzustellen, nach Hause gebrachtes Heeresgut soll eingelagert und vor Plünderung geschützt werden. Die Rüstungsbetriebe müssen sich auf zivile Produktion umstellen – die Frage ist: welche? Die zahlreichen Frauen in den Fabriken sind anderweitig unterzubringen – die Frage ist: wo? Gertrud in Halberstadt rechnet mit Einquartierung von 12 zurückkehrenden Offizieren der Kürassiere – »hoffentlich ohne Verpflegung«. Wie sie die Zimmer heizen soll, weiß sie nicht, »aber die haben schließlich an der Front schon gefroren«.
Und Revolution ist auch noch, oder das, was in Deutschland dafür herhält. Sie bricht aus an einem Ort, wo keiner sie erwartet hatte – nicht bei den hungernden Arbeitern in Berlin, sondern weit weg auf Schillig-Reede in der Außenjade bei Wilhelmshaven, wo die kaiserliche Flotte lag. Die hatte – anders als die U-Boote – seit der Schlacht im Skagerrak 1916 untätig herumgedümpelt, einmal wegen der britischen Blockade, aber auch, weil der Kaiser sein »Riesenspielzeug« schonte. Jetzt wollten auch die zu kurz gekommenen See-Offiziere Ruhm einfahren und nicht zulassen, daß der Krieg ausschließlich das Heer glorifizierte.
Die Marine-Oberen befahlen, streng geheim, einen Kamikaze-Trip, sinnlos, zwecklos, ein gigantisches Untergangsgemetzel – die gesamte kaiserliche Flotte gegen England und damit indirekt gegen die »flaue« deutsche Regierung und ihr Waffenstillstandsgesuch. Das war eine Meuterei der Offiziere um den Flotten-Admiral Reinhard Scheer gegen alles, was in Berlin und in Spa zur Beendigung des Krieges beschlossen worden war. Man dachte sogar daran, den Kaiser einzuladen, an Bord des Flottenflaggschiffs an dem furiosen Finale teilzunehmen, Stoff für die Marinemaler kommender Generationen – Offiziere wollen nicht schmählich kapitulieren, sie wollen kämpfend sterben.
Die Mannschaften wollen das nicht. Nicht mehr in einem Krieg, der sowieso schon verloren ist. Am 29. Oktober meutern sie, zunächst nur wenige, gegen die Meuterer auf den Kommandobrücken und verhindern das Auslaufen der Flotte. Der Widerstand breitet sich aus wie ein Flächenbrand über ganz Deutschland, und er ist zunächst – wann hat es das je gegeben? – ein Aufstand nicht gegen, sondern für die Regierung. Die zivile sozialdemokratisch-bürgerliche Regierung soll gestützt werden gegen die Vorherrschaft der Militärgewalt, die den Krieg immer wieder vorangetrieben und die Zivilbevölkerung jahrelang im »Belagerungszustand« geknebelt hatte.
Am 9. November 1918 erreicht die Revolution Berlin. Von einem Fenster des Reichstags aus proklamiert Philipp Scheidemann mittags die »deutsche Republik«. Wenig später steht Karl Liebknecht, wie bei Kriegsbeginn der Kaiser, auf einem Balkon des Schlosses und verkündet seinerseits die »sozialistische Republik Deutschland«. Der künftige Krach ist programmiert. Ob und wie die Zehntausende vor dem Reichstag und vor dem Schloß beides – akustisch – verstanden haben, bleibt unklar. Es gab noch keine Megaphone. Dem Jubel hier wie dort tut das keinen Abbruch, und es
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