Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
anzubieten, sich von der teuren Kavallerie in ein Infanterie-Regiment versetzen zu lassen, wo das Kasinoleben weniger aufwendig ist und das schmale Gehalt nicht für Sättel, Trensen und ähnliches Zubehör draufgeht. Kurt allerdings wiegelt ab, das Geld für den Sohn falle bei seinen sonstigen Kosten kaum ins Gewicht. Der Hugo-Stinnes-Konzern habe ihm ein Angebot gemacht, »die Nienburger Fabrik und das Gesamtgeschäft an sie zu verkaufen und zwar für einen sehr hohen Preis. Ich hätte aber von dem Gewinn horrende Steuern zahlen müssen, und ich will und muß doch die Firma der Väter für meine Söhne erhalten. Also haben wir abgelehnt. Du kannst aber daran sehen, wie man die Aussichten unserer Industrie für die Zeit nach dem Kriege bewertet. Jedenfalls bleibst Du bei Deinem Regiment, solange es geht.« Die prestige-trächtige Kavallerie verläßt einer nur im Notfall, man muß schließlich an später denken. Außerdem kämpft die Infanterie im Westen, und da will Kurt seinen Sohn unbedingt raushalten.
Er nimmt den Junior noch in die Firmenpflicht. Am 1. Juli 1918 sei der Prokurist Alexander Busse 40 Jahre bei I. G. Klamroth: »Schreibe ihm bitte einen Glückwunsch. Wir schenken ihm 5000.– Mark Kriegsanleihe und ich habe für ihn den Kronenorden 4. Klasse und das Verdienstkreuz beantragt.« Vier Jahrzehnte – das sind 20 Jahre länger, als Kurt dabei ist, und solche Jubiläen sind in der Firma keine Ausnahme. In einer Feierstunde überreicht Gertrud dem verdienten Mitarbeiter Orden und Kreuz. Von der Kriegsanleihe hat er wohl nicht mehr viel gehabt.
Gertrud verordnet dem Sohn gelegentlich Exerzitien zur Selbstbeherrschung: Der Vetter, dessen Notabitur HG vor zwei Jahren grimmig und mit viel Alkohol gefeiert hatte, Vetter Fritz also »hat in Frankreich das EK I bekommen. Bitte freu Dich neidlos mit ihm!« Im übrigen bekümmert sie sich um HGs geistige Entwicklung: »Nutz doch die Zeit, um Russisch zu lernen. Hast Du auch gute Bücher zum Lesen?« Die Sprache fliegt den Jungen an wie vorher schon Estnisch. Nach ein paar Monaten braucht er keinen Dolmetscher mehr, kann auch kyrillische Texte lesen. 24 Jahre später an der Ostfront im Zweiten Weltkrieg holt er die Schätze der Vergangenheit aus seinem Gedächtnis hervor, um sich nach dem Ende offizieller Verhöre stundenlang ohne Übersetzer mit sowjetischen Kriegsgefangenen ideologisch auseinanderzusetzen.
Was den Geist betrifft – nun ja. HG bittet die Mutter, ihm »das letzte Werk« der Alice Berend zu schicken: »Die Bräutigame der Babette Bomberling«. Ich habe das tapfer gelesen, es sind nur 155 Seiten, Fischers Bibliothek zeitgenössischer Romane aus dem Jahr 1915. Die Dame hat auch »Das verbrannte Bett« und »Der Floh und der Geiger« geschrieben – sehr beliebt zu ihrer Zeit. HG bittet um »Gartenlauben«-Literatur. Auch Agnes Günthers »Die Heilige und ihr Narr« wünscht er sich als Einöd-Lektüre. Ganz dunkel erinnere ich mich, die zwei Bände als 12jährige in der Hand gehabt zu haben, aber meine Annäherungsversuche an HG gehen nicht so weit, daß ich mir das heute noch mal zumute
In der Ukraine verschärfen sich die Spannungen zwischen den Parteien. Militär, rechtskonservative Partisanen, Bolschewiki und deutsche Truppen verkeilen sich ineinander in immer neuen Überfällen und Strafexpeditionen. Die Deutschen dürfen nur eingreifen, wenn sie direkt überfallen werden, und da bleibt HGs kleiner Vorposten erstmal verschont. Als frischgebackener Leutnant führt er zwischenzeitlich die eine und die andere Schwadron – »ich muß lernen, Befehle auch in ein mürrisches Gesicht zu geben« –, aber das ist nichts als Beschäftigungstherapie, denn es gibt nichts zu tun. Die Soldaten können nicht ausreiten, weil das zu gefährlich ist, also werden die Pferde stundenlang longiert, und die Stimmung ist im Keller.
Dazwischen beunruhigen sich widersprechende Meldungen, die Zeitungen sind Wochen alt und die Post tröpfelt nur spärlich. HG an Kurt: »Wir wissen hier nichts, und ich fühle mich untätig und ohnmächtig. Überall schwirren die Gerüchte, daß der Krieg bald zu Ende ist.« Daß er verloren sein könnte – darauf kommt HG nicht. Damit rechnet niemand weder bei den Soldaten noch in der Bevölkerung. Kriegsende bedeutet für die Deutschen Sieg oder allenfalls einen Verständigungsfrieden. Vier Jahre lang waren sie tatsächlich »im Felde unbesiegt« geblieben. Sie hatten gleichzeitig und erfolgreich gegen die Millionenheere der
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