Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
Heeresleitung hatte in den zwei Jahren seiner diktatorischen Herrschaft nicht nur das Kriegsgeschehen bestimmt und den möglichen »Verständigungsfrieden« wieder und wieder verhindert. Er hatte Kaiser und Regierung mitsamt dem alten Generalfeldmarschall zu Marionetten degradiert, gegen alle Bestimmungen der Verfassung selbstherrlich Reichskanzler und Außenminister ausgetauscht, Lenin nach Rußland verfrachtet und das Parlament zu einer Schattenveranstaltung gestaucht.
Dieses Parlament sollte nun die Kastanien aus dem Feuer holen und die Niederlage schultern. Dazu mußte die von Ludendorff und Konsorten so verachtete Reichstagsmehrheit in die Regierung eintreten, denn sie und unter keinen Umständen die Oberste Heeresleitung sollte das Waffenstillstandsgesuch an Wilson richten. Am Wochenende 28./29. September 1918 informierte Ludendorff den Kaiser und die Regierung. Erst am Sonntagabend erfuhr auch sein nomineller Chef Hindenburg von Ludendorffs Plan. In den nächsten beiden Tagen wurden die Stabsoffiziere der Obersten Heeresleitung und der Reichstag unterrichtet, und hier wie dort – man glaubt es kaum – fielen die Männer aus allen Wolken.
»Stöhnend und schluchzend« nahmen die hochrangigen Offiziere zur Kenntnis, daß der Krieg verloren und an der Westfront jeden Moment ein Durchbruch des Feindes zu erwarten sei. Was hatten die Herren denn bisher gemacht, daß sie so überrascht waren? Im Reichstag spielten sich ähnliche Szenen ab. Der Journalist Erich Dombrowski: »Die Abgeordneten waren ganz gebrochen. Friedrich Ebert wurde totenblaß, der Abgeordnete Stresemann sah aus, als ob ihm etwas zustoßen würde. Überall halberstickte Aufschreie, hervorquellende Tränen. Erwachen aus der Narkose, Zorn, Wut, Scham, Anklage: wir sind jahrelang von den Militärs belogen worden, und wir haben daran geglaubt wie an ein Evangelium.«
Ja, wenn das denn so ist, dann wird auch der gläubige HG empört sein dürfen. Nur ist er wütend auf die falschen Leute. Sein Zorn richtet sich gegen die Vertreter der Mitte-Links-Parteien, denen er und Millionen andere unterstellen, sie hätten, kaum waren sie in der Regierung, mit dieser plötzlichen Bitte um Waffenstillstand das Vaterland verraten. Daß Ludendorff das Waffenstillstandsgesuch verfügt und sich dafür nützliche Idioten im Reichstag gegriffen hatte, weiß schließlich keiner. Hier liegen die Wurzeln der Dolchstoß-Legende, nach der die Heimatfront, zuvörderst die »linken Volksvertreter«, dem »im Felde unbesiegten« Heer mit dem Waffenstillstandsgesuch in den Rücken gefallen seien.
Kurt übrigens hat diese Hintergründe in seiner Kriegsamtstelle inzwischen ziemlich präzise zusammentragen können. In einer seitenlangen Epistel setzt er HG Mitte Oktober ins Bild mit der Maßgabe, der Sohn möge den Brief sofort vernichten, was der dankenswerterweise nicht getan hat. Es kommt Kurt – man höre und staune! – vor allem darauf an, HGs harsches Urteil über die Volksvertreter und den neuen Reichskanzler Prinz Max von Baden zurechtzurücken: »Der Prinz erfüllt seine schwere Aufgabe in großer Treue zum Vaterland, und wir müssen den Sozialdemokraten dankbar sein, daß sie sich der Verantwortung für die Massen stellen, obwohl es parteipolitisch für sie klüger gewesen wäre, es nicht zu tun.« Das ist wohl wahr – ein Jahr später waren sie die »Novemberverbrecher«, die das »siegreiche Heer« der Niederlage ausgeliefert hatten.
Kurt weiß auch, daß nicht die »Jammergestalten und Flaumacher« der neuen Regierung, sondern die Oberste Heeresleitung selbst, also Ludendorff, den Waffenstillstand kategorisch verlangt hatte: »Sie mußten auf jeden Fall verhindern, daß der Krieg nach Deutschland eindringt.« Es fällt Kurt nicht ein, sich auch nur im stillen Kämmerlein gegen die Führer seines Staates aufzulehnen. Er leidet zwar: »In mir ist es, als ob in einem Instrument eine Saite gesprungen ist. Mir tut es fast physisch weh, wenn ich an den Zusammenbruch denke.« Sein Zorn aber richtet sich gegen US-Präsident Wilson und dessen rüde Vorbedingungen für einen Waffenstillstand: Räumung der besetzten Gebiete, Beendigung des U-Boot-Krieges, Reparationen für die alliierte Zivilbevölkerung und – Sakrileg! – Abdankung des Kaisers.
Kein Sakrileg. Es kräht kein Hahn danach, daß Wilhelm II. nach Holland verschwindet, daß alle regierenden Fürstenhäuser im Deutschen Reich sich in Luft auflösen, daß der genervte Prinz Max von Baden den
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