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Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)

Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)

Titel: Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wibke Bruhns
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geraten in schwere Kämpfe – HG in einem der wenigen Briefe, die noch durchkommen: »Da gingen wir zu Pferde im Galopp in dichten Kolonnen durch rasendes MG-Feuer, eine haarige Sache!« Es häufen sich die Schauergeschichten von Truppenteilen, die sich im Vertrauen auf ihre ukrainischen Partner von gestern unbewaffnet in Züge haben verladen lassen und schon nach wenigen Kilometern ausgeraubt und in die Luft gesprengt wurden. HG: »Im Normalfall hätte das Krieg bedeutet«, aber in der deutschen Heeresgruppe geht gar nichts mehr.
    Unter den Offizieren kursieren Gerüchte über ein bevorstehendes Deutschen-Pogrom, und HG beschreibt deprimiert eine Erfahrung fürs Leben: »Vor zwei Monaten noch waren wir hier die einzigen und unbestrittenen Herren, was ist das für ein Wandel!! Aber man hat mal wieder so recht gesehen, daß nur die Macht zum Erfolg führt, das sogenannte ›Recht‹ ist immer eine Utopie. Dem ›Recht‹ nach wollten wir hier neutral bleiben und geordnet abrücken, dabei gaben wir unvorsichtig die Macht aus der Hand, und das haben wir nun davon!«
    Die Regimenter, verstärkt durch eine Abteilung Königsberger Artillerie, müssen sich buchstäblich durchschlagen. HG gerät zweimal in Nahkampf-Gefechte, die er heil übersteht, aber sein Pferd tritt beide Male nach und bricht ihm erst das Bein und dann das Schulterblatt. Wie im Frühjahr, als er den Schützen Vitt überlebte, erfährt HG auch jetzt durch einen Fußtritt seines Pferdes seine Endlichkeit. Doch er reitet weiter, Bein und Schulter notdürftig geschient, es ist bitter kalt, die Soldaten leiden unter Frostbeulen und Hunger. In den Dörfern fangen sie sich Läuse und Würmer ein.
    HG wird als Dolmetscher gebraucht, wenn freie Durchmärsche geklärt werden müssen, und vor allem, wenn es darum geht, daß sie sich nicht entwaffnen lassen. Offensichtlich ist auch sein Verhandlungsgeschick gefragt. HG ist der Sohn seines Vaters, der trotz aller Empörung im Bauch den richtigen Ton trifft. Es gibt keine Briefe von ihm aus dieser Zeit, später schreibt er: »Das war Krieg, ein schmutziger, ekliger Krieg, wo wir auf dem Rückzug waren, Soldaten eines verlorenen Krieges ohne Ehre, ohne Stolz, aber auch nicht mehr bereit zu sterben.«
    Nach vier harten Wochen sind sie am 23. Januar 1919 in Bialystok, einem Eisenbahnknotenpunkt, wo eine deutsche Nachhut den Transport des gesamten Rückzugs aus Osteuropa koordiniert. Erst hier kann HG seine Knochenbrüche versorgen lassen, und der Standortkommandant, ein alter Kumpel von Vater Kurt aus dessen Ostfront-Zeit, will ihn sofort nach Hause schicken, damit eventuelle Verformungen seines Körpers vermieden werden können. HG weigert sich. Er will seine Truppe nicht verlassen, und merkwürdigerweise bleiben keine Schäden bei ihm zurück.
    Einen Monat später erst wird das Regiment nach Tilsit verladen – seit dem letzten Frühjahr war HG nicht mehr in Deutschland, länger als zwei Jahre nicht zu Hause in Halberstadt. Kurt begrüßt ihn sorgenvoll: »Willkommen, lieber Junge, herzlich willkommen in der Heimat. Ach, aber es ist eine so andere Rückkehr als die, die ich Dir wünschte. Du wirst Dich an vieles gewöhnen müssen, was Dir schwer werden wird. Es ist nicht mehr das alte Deutschland! Wir haben die Umwandlung langsamer durchlebt, und auch uns kam vieles noch viel zu schnell. Dir wird es schwerer werden, weil der Übergang plötzlicher sein wird.«
    Das geht bei der Ankunft in Tilsit los. Früher wäre das Regiment im Triumph und mit klingendem Spiel in die Stadt gezogen, Flaggen an allen Häusern, und der Jubel der Bevölkerung hätte den Kriegern das Herz gewärmt. Jetzt kommen sie nachts an, der Zug hat deswegen eigens ein paar Stunden auf freier Strecke gehalten, und nur ein paar schlaflose Einwohner Tilsits werden die lautlosen Kolonnen auf dem Weg in ihre Kasernen bemerkt haben.

    Kurt und Gertrud mit Kindern

F ÜNF
    D IE R ÜCKKEHR INS Z IVILLEBEN BRAUCHT Z EIT . HG ist Berufsoffizier, und die Entlassung in den Reserve-Status dauert, zumal das Regiment ihn gern behalten hätte. Aber Kurt macht Druck, es herrscht Lehrstellenknappheit: »Die jungen Offiziere und Fähnriche drängen in erschreckender Anzahl in die bürgerlichen Berufe, und bald werden alle guten Stellen besetzt sein.« HGs Wunsch, seinen Burschen mit nach Halberstadt zu bringen und ihn als Diener weiter zu beschäftigen, stößt bei den Eltern auf mildes Entsetzen. Gertrud: »Wovon willst Du ihn ernähren? So nett das für Dich

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