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Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)

Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)

Titel: Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wibke Bruhns
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bleibt bestehen, damit sie nicht – so Kurt – »für Luxusbauten verwendet werden«. Das Standesamt bekommt neue Räume, weil wegen der erhöhten Grippesterblichkeit im Land und der Todesfälle an der Front zusätzliche Mitarbeiter Platz brauchen, und der Friedhof muß erweitert werden. In der Stellenvermittlung des Arbeitsamtes werden getrennte Wartezimmer für männliche und weibliche Arbeitsuchende eingerichtet – Kurt bewahrt sich auch in wirren Zeiten den Blick für das Wesentliche.
    Gertrud ist deutlich stärker gebeutelt als ihr Mann. Auch in Halberstadt sind Offizieren auf der Straße Degen, Kokarde und Achselstücke abgenommen worden. »Oh Großer«, schreibt sie an HG, »Dein Blut wird wohl kochen, wenn Du das liest, und Du wirst nicht verstehen, daß sie sich nicht bis aufs Letzte wehren. Aber überall laufen auch die Kürassiere mit roten Fahnen und Schleifen herum – mir kamen die Tränen, als ich die ersten sah.« Ihre Welt, die nicht durch Hunger, Hühner-Cholera, Heizungssorgen aus dem Lot zu bringen war – jetzt ist sie ins Taumeln geraten. Der Mann auf der Straße, bisher ein fürsorglich behandelter Angestellter oder Lohndiener, wird für sie plötzlich zur Bedrohung. Dankbar schildert Gertrud, daß Kurt »das Schlimmste, daß man ihm den Säbel weggenommen und die Achselstücke abgerissen hätte«, erspart geblieben sei, »da er mit all seinen Herren im Kriegsamt schon Zivil trug«. Das Schlimmste: für Gertrud der Verlust äußerer Insignien ihrer Klassenzugehörigkeit.
    Gertrud flüchtet sich zu Schiller. »Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, und neues Leben blüht aus den Ruinen«, zitiert sie »Wilhelm Tell« und hat dabei eine ziemlich präzise Vorstellung, wie dieses neue Leben aussehen sollte, nämlich »daß deutsches Wesen sich wieder durchsetzen wird«. Zur Erholung von den Schrecknissen da draußen lesen sie abends Wilhelm Raabe »Der Hungerpastor« vor, das paßt ja in die Zeit. In doppelter Hinsicht. Die antisemitischen Töne des Buches tauchen bei Kurt schon Anfang Dezember in anonymen Flugblättern wieder auf, die in Magdeburger Fabriken verteilt werden: »Es wird darin gesagt, daß in Deutschland die Verhältniszahl der Juden zur Gesamtbevölkerung anderthalb Prozent beträgt, daß aber in der gegenwärtigen Regierung 80 % Juden säßen.« Da sind sie wieder, die »Alldeutschen«, die »Vaterländische Partei« und die vielen anderen, die alle Schuld an der deutschen Niederlage einer »jüdisch-freimaurerischen Weltverschwörung« anlasten.
    In die Ukraine schwappt die deutsche Geschichte mit deutlicher Zeitverzögerung. Während zu Hause riesige Demonstrationen von Soldaten und Arbeitern die Städte lahmlegen, tanzt HG auf einem Manöverball mit den Schönen des Landes. Am Tag, als der Waffenstillstand unterzeichnet wird, das ist der 11. November 1918, zieht er mit einigen Offizieren und ukrainischen Großkaufleuten in Kiew um die Häuser – seine Schilderung dieser schlüpfrigen Nacht an den Vater wird von Kurt zensiert, indem der den Brief abschreibt und entschärft, bevor er ihn an Gertrud weiterleitet: »Der Junge hat mir von Mann zu Mann geschrieben. Das ist nichts für Mütter.« Für Töchter leider auch nicht. Der Originalbrief ist verschwunden.
    Erst am 21. November erwischt die Nachricht von Revolution und Umwälzung den ahnungslosen HG, als er von einem MG-Lehrgang – »so viel habe ich in meinem Leben noch nicht getrunken!« – zurück in seinen Standort kommt. Seine aufgeregten Soldaten in der Schwadron wählen ihn, den Offizier, Hals über Kopf und einstimmig in den Soldatenrat – die letzten Zeitungen sind vom 4. November, und wie Revolution eigentlich geht, weiß niemand so recht. Sie wissen nur, daß sie so schnell wie möglich nach Hause wollen. HG: »Es heißt, daß wir nicht verladen werden, sondern die ganze Strecke reiten sollen« – von Odessa nach Tilsit! – »das kann ja lieblich werden. Haltet nur mein Zivilzeug bereit, ich bleibe nicht eine Sekunde länger Soldat als ich unbedingt muß. Wenn Ihr jetzt eine Weile nichts von mir hört, so sorgt Euch nicht um mich. Ich bin unter den Kameraden der 5./D.1 sicher wie in Abrahams Schoß!«
    Das ist er nicht. Ein geordneter Rückzug des deutschen Heeres aus der Ukraine ist nicht mehr möglich, und für HG ist nicht erkennbar, ob sie es mit Räuberbanden oder Militärformationen zu tun haben – jeder will ihnen ihre Waffen, ihre Munition, ihre Pferde, ihre Ausrüstung abjagen. Sie

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