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Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)

Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)

Titel: Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wibke Bruhns
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wäre – wir haben hier Menschen genug.« Kurt: »Ein Lehrling mit persönlichem Diener! Schlag dir das aus dem Kopf!«
    Vater Kurts Beziehungen führen zu einem Platz für HG im Speditionsgeschäft Carl Prior in Hamburg, von wo ein ahnungsvoller Herr Michaelsen dem »sehr verehrten Herrn Kommerzienrat« schreibt, er gehe davon aus, »daß Ihr Herr Sohn sich des Unterschieds zwischen einem Lehrverhältnis und den Verantwortlichkeiten eines Offiziers bewußt ist«. Kurt antwortet: »Daß er sich allen Anordnungen seines Lehrherrn unterwirft und die übliche Geschäftszeit innehält, halte ich für selbstverständlich.« Wie war das mit dem Harmonium? »Nun muß sich alles, alles wenden« – armer Junge! Dienstbeginn ist der 13. Mai 1919.
    Ich versuche, mich da hineinzuversetzen: Etappendienst mit Kasino-Gelagen, Manöver-Ball, Trappen-Schießen. Dragoner, die mit den Hacken knallen, der Bursche richtet das Badewasser. Dann »rasendes MG-Feuer«, die Verbündeten von gestern drohen mit einem Deutschen-Pogrom. Scheußlicher Rückzug, Nahkämpfe, Pistolenduelle Mann gegen Mann bei 20 Grad minus. Das Bein kaputt, die Schulter kaputt, verhandeln, verhandeln, verhandeln – knapp 2000 Männer sind abhängig davon, daß du gut bist. Auf russisch. Danach schleichst du dich nachts wie ein Hund in die Kaserne, und draußen ist eine Welt – eine deutsche Welt –, die du nicht kennst. Statt dessen die Perspektive »Anordnungen des Lehrherren«, »übliche Geschäftszeit«, Konossemente, Zoll-Abfertigung im Freihafen – und keine Pause dazwischen. Keine Zeit zum Nachdenken. Niemand, der dich in den Arm nimmt, keiner, der sagt: Komm ganz langsam an und mach dich ganz, ganz langsam auf den Weg.
    HG fährt am 20. April in Zivil in knallvollen Zügen von Tilsit nach Halberstadt – die Zeit der komfortablen Sonderabteile für Offiziere ist vorbei, und kein Bursche besorgt mehr das Gepäck. Dabei wäre HG so gern wenigstens einmal als Leutnant in vollem Ornat durch die Stadt spaziert. Kurt, der inzwischen den Dienst in Magdeburg quittiert hat, tröstet brieflich: »Hier erwartet Dich ein tadelloser Einreiher-Rockanzug (Cutaway), der Dir Spaß machen wird.« Ich kenne die Fotos: HG sieht wieder aus wie ein Konfirmand. In Halberstadt feiert er Wiedersehen mit Kurts Schlachtrössern »Nelly« und »Lord«, die Kutscher Kückelmann – den gibt es auch schon seit Jahren – in der Gegend von Breslau aufgetrieben hat. Sie sehen aus, als wäre mindestens der Großvater ein Kaltblüter gewesen. Kein Wunder, daß sie den Krieg so gut überstanden haben auch ohne HGs Rettungsaktion in die Ukraine. An Morgenritte in den Spiegelsbergen ist allerdings nicht zu denken. Alles was einen »Junker«-Anstrich hat, könnte »Rowdies« auf dumme Gedanken bringen.
    Denn die Revolution ist nicht mehr nett. Die Auseinandersetzungen der verschiedenen sozialistischen Gruppierungen untereinander haben sich zugespitzt. Die Gegenrevolution in Gestalt von noch nicht demobilisierten Regimentern und in aller Eile aufgestellten Freikorps steht buchstäblich Gewehr bei Fuß. Anfang Januar 1919 hatte der Sozialdemokrat Gustav Noske auf Anordnung der sozialdemokratischen Regierung Ebert mit diesen rechtsradikalen Freikorps den sogenannten Spartakus-Aufstand in Berlin zerschlagen. Am 15. Januar wurden Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht von Regierungstruppen meuchlings ermordet. In Deutschland herrscht Bürgerkrieg.
    Wie findet sich einer in dieser Chaos-Zeit zurecht, der bisher ordentlich von oben nach unten gelebt hat? Ganz einfach: Er macht weiter so wie bisher. Sowohl HG als auch seine Eltern arrangieren sich mit den Widrigkeiten der Nachkriegszeit – Hungerrationen, ungeheizte Zimmer, Zugverspätungen, wenn überhaupt einer fährt. Im übrigen findet der Bürgerkrieg woanders statt, in den Arbeitervierteln mal in Köln, vor allem in Berlin, verheerend in Bayern. In Halberstadt ist das Anlaß zu langwierigen Diskussionen, nicht zur Umwidmung bisheriger Werte. Man kann daran vorbeileben. Nicht ganz wie gehabt, aber immerhin.
    Kurt kandidiert in Halberstadt für die großindustrielle »Deutsche Volkspartei« von Gustav Stresemann in den Wahlen zur Nationalversammlung und, erstmals ohne Dreiklassen-Wahlrecht, zum preußischen Landtag. Er tut das nicht begeistert, aber mit »aller Kraft gegen die Sozialdemokraten«. Damals ging es darum, das konservative Element in der Nationalversammlung gegen alles »Linke« zu stärken, und Kurt, Protagonist der alten

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