Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
lange auf Deinen Rat verlassen muß.« Mit Kurts Rat allein ist es nicht getan. Er und Gertrud schreiten zur Konzertierten Aktion, als sie begreifen, daß HG den Versuchungen der Großstadt weit über die Kapazität seines privaten Geldbeutels hinaus erlegen ist. Gertrud: »Vater ist sehr ungehalten über die jetzt dritte Restaurantrechnung aus dem ›Vier Jahreszeiten‹, und dann auch noch Champagner! Mußt Du denn so protzen?«
Gertrud verbindet ihre Irritation über HGs aufwendigen Lebensstil einmal mehr mit der Sorge um seine geistige Nahrung : »Hörst Du nicht auch mal was Gutes im Konzert oder im Theater? Das kann man in diesen schweren Zeiten auch mal ohne Abendgarderobe. Und was liest Du eigentlich? Soll ich etwas schicken? Schläfst Du auch genug?« Als HG für sein kleines Zimmer teures Heizmaterial bestellt, versteht Kurt seinen Sohn nicht mehr: »War das absolut nötig? Kannst Du nicht in Biebers geheizten Räumen Deine Schreibereien machen, lesen u.s.w.? Ich gebe gern zu, daß es sehr unschön ist, kein eigenes warmes Zimmer zu haben. Aber das geht ja jetzt vielen Leuten so. Jetzt, während ich dies schreibe, friere ich gottsjämmerlich in meinem Kontor. Schön ist das nicht, aber was hilft’s?«
Doch Kurt zahlt: Für Holz und Torf 214.50 Mark, ein Elektriker bekommt 120,– Mark – da hat sich HG in sein Zimmerchen Strom verlegen lassen. Kurt spitz: »Die Petroleumlampen reichen nicht mehr??« Der Vater besorgt Lackschuhe für den Frack und schleppt im überfüllten Zug den Smoking zum Schneider nach Hannover. Abgesehen von HGs verunglückten Investitionen in seine »Geschäfte« überweist Kurt jeden Monat 500,– Mark für Kost und Logis plus 300,– Mark Taschengeld, und alle zwei Wochen kommt ein Freßpaket aus Halberstadt.
Ich werde ganz nervös, wenn ich das so zusammenrechne – kann der Mann nicht mal auf den Tisch hauen? Der hat schließlich vier Kinder. Macht er das bei allen so? Vorsicht! Was würde ich denn tun mit meinen Kindern, wenn die gerade dem kriegerischen Unheil heil entronnen sind und überall im Freundeskreis die Trauer über den Verlust der jungen Hoffnungen ihren Schatten auf die Familien legt? Kurts Bruder Johannes hat zwei Söhne verloren, seine Schwester Gertrud einen – man kann ja nicht aufhören zu zählen. Trotzdem werde ich ärgerlich, wenn ich lese: »Hast Du übrigens gegen irgend jemanden brieflich geäußert, ich hielte Dich etwas knapp oder so ähnlich? Mir ist so etwas auf Umwegen zu Ohren gekommen. Solltest Du Wünsche in der Beziehung haben, lieber Junge, so sprichst Du Dich wohl offen mir direkt gegenüber aus.«
Warum läuft HG in seinen ersten Hamburger Monaten so aus dem Ruder, nachdem er vorher als Soldat sich doch oft einen Kopf gemacht hat, ob das Leben als Kavallerist nicht zu teuer sei für Vaters Portemonnaie? Vielleicht hat er ja gar nicht. Vielleicht waren all seine Sorgen um die hohen Kosten für Ausrüstung, Kasinoleben, Sauf-Gelage im Regiment, HGs wiederholte Angebote, sich zur preiswerteren Artillerie versetzen zu lassen, lediglich eins von diesen üblichen Gesellschaftsspielen zwischen Söhnen und Vätern. Der Sohn gibt den Schuldbewußten, und der Vater zahlt um so leichter, wenn er das Gefühl hat, der Sohn weiß die Belastung zu schätzen? HG wußte, daß der Kürassier Kurt sich krummgelegt hätte, um seinem Sohn die Karriere-Chancen in einem Reiter-Regiment nicht zu verbauen. Er wußte außerdem, daß der Vater sich auch im Krieg nicht krummlegen mußte.
Aber jetzt? Die Verhältnisse sind schwierig, die Hunger-Blockade der Kriegsgegner greift nach wie vor, und es kommen keine Rohstoffe ins Land. Kurt erwartet von der Herrschaft der Roten »Sozialisierungen, daß uns die Augen tränen werden«. Das passiert tatsächlich nicht, doch solche Befürchtungen lähmen den unternehmerischen Elan. Das Demobilisierungsgesetz schreibt vor, daß jeder Mitarbeiter von 1914 bei vollem Lohn in der früheren Firma wieder eingestellt werden muß, auch wenn die, wie I. G. Klamroth und viele andere, kaum etwas zu tun hat. Kurts Laden beschäftigt demnach zur Zeit deutlich zu viel Personal – es geht nicht wirklich schlecht, aber nicht so gut wie sonst. Kurt muß scharf rechnen, und er findet, der Sohn und künftige Partner solle das auch. Warum also entwickelt HG ausgerechnet jetzt so etwas wie finanzielle Maßlosigkeit?
Vielleicht, weil er sich nicht zurechtfindet. Abgesehen von dem Erlebnis mit dem Schützen Vitt war seine Soldatenzeit
Weitere Kostenlose Bücher