Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
Luxemburg und Italien geliefert werden sollen, obwohl Deutschland ein Drittel seiner Kohlevorkommen eingebüßt hat. Die Besetzung der deutschen Gebiete westlich des Rheins für die Dauer von 15 Jahren ist eine Schmach, vor allem aber ist sie teuer. Denn Deutschland zahlt die Stationierungskosten – »Unterhalt von Menschen und Tieren, Einquartierung und Unterbringung, Sold und Nebenbezüge, Gehälter und Löhne, Kosten für Nachtlager, Heizung, Beleuchtung, Kleidung, Ausrüstung, Geschirr, Bewaffnung etc. etc.« So steht es im Vertrag, und die Befürchtung, Frankreich könne viel mehr Truppen als nötig hierher verlegen, um seine Armee von Deutschland finanzieren zu lassen, hat sich schnell bestätigt.
Und dann die Reparationen – jeder weiß, daß das illusorische Summen sind, ein wohlfeiles Mittel, Deutschland immer wieder mit Gebietsbesetzungen zu strafen, Lebensmittelblokkaden zu verhängen, Verkehrswege zu sperren, wenn das ausgeblutete Land nicht zahlt, nicht zahlen kann – eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Zunächst geht es um astronomische 269 Milliarden Goldmark plus umfangreiche Sachlieferungen wie 80 000 Lokomotiven und 150 000 Eisenbahnwaggons, Schiffe, Schwermaschinen, chemische Erzeugnisse und, und, und. Daß man die Kuh nicht schlachten soll, wenn man sie melken will, setzt sich allerdings auch bei den Siegermächten durch: Die neue Summe heißt, immer noch absurd hoch, 132 Milliarden Goldmark plus Zinsen, die erste Milliarde bitte innerhalb von 25 Tagen nach Vertragsabschluß. Deutschland hat das Geld nicht. Deutschland aber hat Geldpressen und bald eine gigantische Inflation.
Was jetzt losgeht, sind die keineswegs goldenen 20er Jahre. Eine Regierungskrise jagt die nächste, die Wirtschaft kollabiert, die politischen Fronten von rechts bis links verkeilen sich in Streiks und Aufständen, Mörder und Schlägertrupps sind unterwegs. Die Klamroths stiefeln durch das Chaos erstaunlich ungerührt durch. Meine Aufregung über diese aberwitzige Zeit hat mit deren Leben nicht viel zu tun. Zwei Monate nach Inkrafttreten des Versailler Vertrags zum Beispiel passiert der Kapp-Putsch. 5000 Mann der Freikorps-Brigade Ehrhardt, erstmals Hakenkreuze auf den Stahlhelmen, marschieren schwer bewaffnet nach Berlin, die Regierung flieht nach Dresden, die Reichswehr krümmt keinen Finger für ihre Dienstherren Friedrich Ebert und Genossen. Die retten sich mit dem Aufruf zu einem Generalstreik, der das Land von Nord nach Süd in Flammen setzt. Der Putsch bricht zusammen, die Protagonisten – »Reichskanzler« Wolfgang Kapp, Gründer der »Deutschen Vaterlandspartei«, General Walther von Lüttwitz, »Vater der Freikorps«, der Liebknecht- und Luxemburg-Mörder Hauptmann Pabst, und – jawohl, der nun wieder: Erich Ludendorff – bringen sich mit falschen Pässen in Sicherheit.
Das war am Samstag, dem 13. März 1920. Am Mittwoch, dem 17. März 1920 – überall ist der Teufel unterwegs! – erscheinen der Fabrikbesitzer und Kommerzienrat Kurt Klamroth, sein Bruder, der Rittergutbesitzer Johannes Klamroth und beider Ehefrauen beim Notar in Halberstadt. Und was machen die da? Ausgestattet mit Vollmachten weiterer Verwandter gründen sie den »Klamroth’schen Familienverband«. Wirklich wahr! Sie bringen ein »Grundgesetz« mit, aufwendig in Fraktur, das heißt in »deutscher Schrift« gedruckt auf 15 Seiten feinstem Bütten zur Hinterlegung beim Amtsgericht. Zweck dieses Verbandes ist der »Zusammenschluß möglichst aller Nachkommen des am 29. Januar 1689 zu Alterode (Ostharz) geborenen und am 2. Mai 1764 zu Ermsleben verstorbenen Johann Caspar Klamroth, soweit sie den Namen Klamroth tragen, und deren Ehefrauen zur Pflege gemeinsamer Familienangelegenheiten«.
Und die sind – ich kürze ab: 1. Herbeiführen eines engeren Zusammenhalts der Familienmitglieder, 2. Erhaltung und Erweiterung des Klamroth-Archivs, 3. Abhaltung von Familientagen, 4. Beaufsichtigung und Verwaltung der Familienstiftungen, 5. Unterstützung von Familienmitgliedern mit Rat und Tat, 6. Schlichtung von Zwistigkeiten zwischen Familienmitgliedern, 7. Erledigung aller derjenigen Angelegenheiten, die durch den Familienrat oder den Familientag als Familienangelegenheiten bezeichnet werden. Eigentlich also: »Seid nett zueinander«. Braucht man dazu einen Verein?
Damals offenbar. Ich kenne noch andere solche Familienverbände bürgerlicher Provenienz. Das hatte zu tun mit dem »Verjunkern« dieser
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