Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
übersichtlich. HG kannte seinen Platz, und das Dasein als Offizier mit den entsprechenden Privilegien fand er angemessen. Als Schüler in Halberstadt hat er um seinen Status sowieso nie ringen müssen. Jetzt ist er einer von mehreren schlecht bezahlten Lehrlingen unter dem übellaunigen Prokuristen Michaelsen, der in HG mitnichten die Preziose sehen will, für die der sich hält. Bei den Geschäftsfreunden seines Vaters und den ostpreußischen Junkern, wo er in Hamburg »Besuch macht« und folglich eingeladen wird, geht es zu wie zu Hause, nur daß HG das Haus in Halberstadt als adäquates Ambiente nicht zur Verfügung hat. Er kann niemanden zu Morgenritten oder Tennisspielen einladen, und so müssen statt Kunstschmalz-Schrippen in Familie Biebers kaltem Zimmerchen gelegentlich Frack-Diners im »Jahreszeiten« her.
Daß da eine Unwucht ist in seinem Leben, spürt HG offenbar schon. Nachdem er seine Volljährigkeit mit Freunden im »Atlantic« gefeiert und den verblüfften Bar-Musikern »Nun muß sich alles, alles wenden« am Flügel vorgesungen hat, überlegt er am nächsten Tag, wo es denn nun hingehen soll mit ihm. 42 Briefe hat er bekommen zum Geburtstag, Pakete, Blumen, von einer ostpreußischen Gans bis zur Schichttorte Verpflegung für die nächsten Wochen. »Ich bin wirklich einigermaßen erschlagen, wie viele Menschen an mir Anteil nehmen«, schreibt er an seine Eltern. Für das neue Jahr hat er sich »auch für mich selber etwas gewünscht, nämlich mehr ›ich selbst zu werden‹. Ich bin bisher innerlich so furchtbar anlehnungsbedürftig, und dann mache ich manches, um anderen zu gefallen, und das ist nicht immer das Richtige. Ich muß üben, selbständig zu werden.«
Wer kennt das nicht, dieses Bedürfnis, everybody’s darling zu sein? Kurt wird diese Sonntagsrede als das begriffen haben, was sie ist. Aber er nimmt den Sohn auch jetzt wieder ernst. Also verfolgt er mit Wachsamkeit, wie HG vor der schwierigen Aufgabe der Selbstfindung flüchtet in die Geborgenheit der einzigen Gruppe, die er außerhalb der Familie kennt: in sein Regiment. Einige Offiziere aus Tilsit haben sich im Hamburger Exil in einem Ehemaligen-Club zusammengefunden, und in den heftigen Diskussionen nach dem Versailler Vertrag geht es darum, »ob nicht jeder, der noch einen Funken Ehre im Leib hat, dagegen mit der Waffe in der Hand zu kämpfen verpflichtet ist«. Man kann von Glück sagen, daß die jungen Leute sich nicht um die Freikorps und deren Jagd auf »Bolschewisten« kümmern. Nicht der Klassenkampf von oben ist ihr Thema, sondern der äußere Feind, in Sonderheit, wenn er Deutschland besetzen sollte. Kurt wiegelt ab: »Widerstand können wir nicht leisten, schon weil wir gar nicht in der Lage sind, unsere Truppen mit Munition und Kriegsgerät zu versehen. Der für diesen Fall von konservativen Fanatikern gepredigte Franctireurkrieg« – heute heißt das Partisanen-Kampf – »wäre der größte Blödsinn und das größte Unglück für Deutschland«.
Überhaupt sei HGs Vorstellung, er müsse das Vaterland jetzt wieder als Soldat verteidigen, den Verhältnissen nicht angemessen. »Wir werden statt dessen alle so würdig wie möglich – ich fürchte, es werden sich viele recht unwürdig benehmen – dem durch den verlorenen Krieg geschaffenen Zustand entsprechen müssen und durch unser Verhalten versuchen, die verloren gegangene Achtung wiederzugewinnen.« Ich höre Kurt 1914. Was für ein mühevoller Weg seit der Zeit, als er noch meinte, »deutsche Kultur und deutsches Wesen« in alle Welt tragen zu sollen.
Jetzt rät Kurt seinem Sohn: »Du stehst vor allem in einem Dienstverhältnis zu Deinem Chef, das Du nicht einseitig wegen eines Abenteuers mit zweifelhaftem Ausgang lösen darfst. Ein Lehrvertrag ist kein scrap paper.« Sieh mal an: Kurt robbt zurück nach England! Weiter auf deutsch: »Treu und Glauben sind im kaufmännischen Leben das, worauf sich alles aufbaut. Im Fall einer Besetzung Hamburgs durch die Engländer wird Deine Firma voraussichtlich erheblich zu tun haben, und Dein Chef würde erstaunt sein, wenn Du ihn verlassen wolltest. Hast Du mit ihm darüber gesprochen?«
Wie zuvor, als Vater Kurt dafür sorgte, daß HG sich nicht wegen des E.K. I an der Westfront den Schädel einschlagen ließ, hindert er ihn nun, im Zuge der Empörung über den Vertrag von Versailles ein Himmelfahrtskommando zu bestücken. Das heißt: Hindern kann er ihn nicht mehr. HG ist volljährig. Kurt argumentiert vielmehr, und ich
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