Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
höre der väterlichen Diplomatie mit Vergnügen zu: »Ich halte Deinen Entschluß, direkt zum Regiment zu reisen, für unrichtig, und es war recht voreilig, daß Du – sicher aus sehr zu achtenden vaterländischen Gefühlen heraus – schon an den Kommandeur und den Adjutanten geschrieben hast. Daß wir Dich, wenn das Vaterland in Not ist, nicht hinter dem Ofen hocken sehen wollen, sondern da, wo Du hingehörst, ist richtig. Ich bin aber nicht einer Meinung mit Dir darüber, wo Du hingehörst, um Deinem Vaterlande am besten zu dienen.«
Der Vater hat ein Gespür für das Wesentliche: »Prüfe Dich doch noch einmal gründlich, ob bei Deinen Entschlüssen nicht sehr viel der Wunsch Deines Herzens mitspricht, wieder in Deinem früheren Kreise zu sein, mit Deinen Kameraden zusammen das frühere Leben zu führen, das – ich gebe es zu – viel angenehmer ist als das eines Handlungsstiftes. Ich kann mir denken, daß der Vergleich mit Deinem früheren Leben sehr zum Nachteil Deines jetzigen ausfällt; aber man soll nicht in Stimmungen, die vorübergehen, über Fragen entscheiden, die auf das ganze künftige Leben entscheidenden Einfluß ausüben.«
Vermutlich hat Kurt recht in bezug auf HGs Sehnsüchte. Doch der Aufschrei nationaler Empörung in Deutschland über den Versailler Vertrag war einhellig, und nicht nur junge Hitzköpfe wie HG wollten sich die hanebüchenen Bedingungen nicht bieten lassen. In dem 440 Artikel umfassenden Konvolut springt mich nichts als Vernichtungswille an, Demütigung. Am heftigsten ging den Deutschen der Kriegsschuld-Artikel 231 an die Nieren – Deutschland und seine Verbündeten sind als »Urheber aller Verluste und aller Schäden verantwortlich« für was immer die Gegner infolge des »ihnen aufgezwungenen Krieges erlitten haben«.
Ich will gar nicht reden von den Gebietsverlusten – Danziger Korridor! – oder von der Minimierung der Reichswehr auf 100 000 Mann mit penibel abgezählten Schuß Munition. Diese Truppenstärke wäre noch nicht mal ausreichend gewesen für Schaumburg-Lippe. Die Marine wird auf 15 000 Soldaten eingedampft, U-Boote darf Deutschland überhaupt nicht mehr haben, eine Luftwaffe auch nicht, und die Hochseeflotte, Kaiser Wilhelms Riesenspielzeug, ist bis auf spärliche Reste an die Alliierten abzuliefern. Dem kommt sie eine Woche vor Vertragsunterzeichnung durch Selbstversenkung in der britischen Bucht von Scapa Flow zuvor – was die Marinemaler daraus wohl gemacht haben!
Also gut: Deutschland hat den Krieg verloren, und was das Kaiserreich den Russen beim Frieden von Brest-Litowsk diktiert hat, läßt ahnen, was passiert wäre, hätte Deutschland auch diesmal als Sieger auftreten können. Aber wer sich da in Versailles alles mit ins Boot gesetzt hat! 27 Staaten sind hier plötzlich versammelt, nicht gerechnet die Commonwealth-Länder wie Indien, Kanada, Australien, Südafrika und Neuseeland. Was haben die, was haben Kuba, was Siam, was Haiti mit dem Krieg zu tun?
Daß der König des Hedschas, heute ist das Saudi-Arabien, daß der Mann den Original-Koran zurückhaben muß, den der Schwiegersohn Mohammeds und dritte Kalif Othman um das Jahr 650 in seine jetzige Form gebracht hatte, versteht sich von selbst. Die Türken hatten den antiken Schatz in Medina geklaut, um ihn Wilhelm II. zu schenken – das macht man ja auch nicht! Aber wird der Wüsten-König deshalb zum Kriegsteilnehmer? Wenn die Liberianer keine Lust mehr dazu haben, daß bei ihnen zuhause ein (!) deutscher Zollbeamter tätig ist, wie 1911 mit dem Kaiserreich vertraglich vereinbart, ist das ein Kriegsgrund? Auf den Schädel des Sultans Makaua, der »aus Deutsch-Ostafrika weggenommen und nach Deutschland gebracht worden ist«, erheben jetzt die Briten Anspruch. Wieso die? Steht so im Vertrag.
HG und seine Dragoner-Freunde werden sich nicht im einzelnen mit dem Vertragswerk befaßt haben, und im Zweifel ist ihnen egal, wieviel Viehzeug an Frankreich und Belgien abzuliefern ist – die Franzosen bekommen 500 Hengste im Alter von drei bis sieben Jahren, die Belgier 200. Dafür will Frankreich Fohlen und Stuten haben von ardennischer, boulonnaiser oder belgischer Rasse, 30 000 insgesamt. Die Belgier bekommen nur 10 000, aber »schwere belgische Zugpferde«. Frankreich hat Ziegen bestellt (10 000), nach Belgien gehen statt dessen 15 000 Mutterschweine. Steht so im Vertrag.
Nicht egal ist es allerdings, daß ab sofort 85 Millionen Tonnen Kohle jährlich an Frankreich, Belgien,
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