Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
wuchert wie die Petersilie, wo man nicht pflegt Familientra-di-tion!«
Ich war ja nicht dabei. Der letzte Familientag der »alten Zeit« fand statt 1938, da war Else mit mir schwanger. Aber diese Lieder, das ganze Repertoire der familiären Bänkel-Band »Benno Nachtigall & Sohn«, haben sich subkutan bei mir eingeschlichen. So knüttelig die Verse sind, so rechts zwei, links zwei die Melodien, so gräßlich mir die Vorstellung ist, wie die da alle sitzen und sich mehrstimmig verbandeln – wieso eigentlich gräßlich? –, irgendwie rührt mich das an. Ich kann diese Lieder alle auswendig, der Himmel mag wissen, woher: »Ihr geliebten Anverwandten vom Famili-en-verband, Basen, Vettern, Onkel, Tanten, reichet fröhlich euch die Hand. Denn es zeigt sich wieder heute, was nicht zu verschweigen blieb: wir sind alle nette Leute, haben uns ganz herzlich lieb«.
Aber es gibt auch dieses, das singen sie 1935: »Heute steht, geeinigt, stark und jung, das Land, das uns geboren, und huldigt in Begeisterung dem Mann, den es erkoren. Drum, Klamroths, stellet Hand in Hand euch freudig in die Reihe: dem Führer Heil, Heil deutsches Land und Heil der Ahnentreue!« Lieber nicht. Man muß nicht Träumen nachhängen, wenn sie so schieflaufen. Trotzdem sind heute Familienfeste – Familientage gibt es schon lange nicht mehr – etwas ganz Schönes. Nicht eins dieser Lieder wird noch gesungen, natürlich. Aber »wir sind alle nette Leute, haben uns ganz herzlich lieb« gilt auch bei den Nachgeborenen. Ziemlich jedenfalls.
Damals war das selbstverständlich. Verweigerung war nicht im Programm. Überhaupt habe ich bisher in all dem Papierkram noch nicht einen Hinweis auf ein »schwarzes Schaf« gefunden, nichts, weswegen der Familienrat oder gar der Familientag sich hätte sorgen müssen. Kein Betrug, kein Bankrott, keine Schulden, sieht man mal von HGs gewagtem Kleinhandel ab. Kein Selbstmord, keine Scheidung, keine Heirat mit Katholiken, keine Promiskuität (jedenfalls nicht ruchbar), kein uneheliches Kind, keine Alkohol-Karriere, keine Prügeleien, nirgendwo Schimpf und Schande. Das kommt alles – nein, nicht alles! – aber ein bißchen davon kommt noch. Später. Noch ist der Niedergang nicht zu spüren.
Noch sind sie alle emsig und wohl auch glücklich, sich unterm Familienwappen aneinander festhalten zu können in diesen grimmigen Zeiten. Jedenfalls sehe ich dieses Wappen zunehmend häufiger geprägt auf den feinen Briefbögen, die in der Familie hin und her gehen. Auch bei HG, und auch der ist emsig. Er hat in Hamburg eine ganze Menge um die Ohren, doch das hindert ihn nicht, 1920 einen Sonderdruck für die »Blätter« herzustellen: »Die Familie Klamroth im Weltkriege«. 15 Männer waren im Einsatz, darunter zehn Offiziere. Drei sind tot, das waren die ganz Jungen, vier wurden verwundet, drei bleiben durch Gasverletzung und Krankheit gezeichnet. Das sind viele, zwei Drittel. Ich muß das nicht hochrechnen auf die Millionen Menschenleben, die dieser Krieg gekostet hat. Ein jedes dieser Schicksale ist entsetzlich.
HG lehnt sich nicht auf, auch jetzt nicht, wo er davongekommen ist. Niemand in dieser Familie lehnt sich auf. HG schreibt im Vorwort zu seinem Sonderdruck: »Fast fünf Jahre tobte der furchtbare Brand, und was die Vorväter in unendlichen Mühen erschaffen hatten, was durch das ganze Leben jedes rechten Deutschen höchster Stolz und Freude gewesen war, lag zerschmettert durch Haß und Wut von außen, Verständnislosigkeit von innen am Boden. So stehen wir wieder am Anfang, und trotz allen Jammers und aller Not der vergangenen Zeit und der schlimmen Gegenwart wissen wir, daß es jetzt wie vor dem Kriege, und gerade jetzt, für jeden von uns, für unser ganzes Wollen und Wirken gilt: ›Deutschland voran!‹ Das Ende aber ist auch für uns Klamroths nur wieder der Anfang, und waren wir bisher Deutsche, so bindet uns nun das Blut, das aus unserem Innersten für das deutsche Vaterland floß, noch fester und inniger an unser deutsches Sein.«
HG ist 22, und er meint das so. Soll ich ihn dafür steinigen? Die haben doch alle so gedacht in Deutschland und anderswo. In einem zweiten Sonderdruck der »Blätter für den Klamroth’schen Familienverband« ein Jahr später schildert HG seine »Erinnerungen an meine Vettern«, an jene drei, mit denen er in den Sommerferien auf Juist Kinder-Krieg gespielt hat und die im Krieg der Erwachsenen so kläglich umgekommen sind. Jetzt ist HG 23, und es heißt: »Sie waren von
Weitere Kostenlose Bücher