Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)

Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)

Titel: Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wibke Bruhns
Vom Netzwerk:
überfallen.« Ob »diese Sache« der Schütze Vitt ist oder die Akne, schreibt er nicht. Ich denke mal, das eine bedingt das andere.
    HG braucht eine Freundin. Daß sein Körper sie braucht, davon gehe ich aus, mindestens genauso dringlich braucht er sie für seine Seele. Die trudelt herum, daß es einen Hund jammern kann, und ich würde ihm wirklich die vergnügte Weltsicht gönnen, die man hat, wenn man sich verliebt. Dagegen sprechen die Zwänge dieser Zeit, die verlangen, daß einer gleich an Heirat zu denken hat, wenn er nur einen heiteren Sommer verleben möchte. Immer müssen die Glocken läuten, wenn ein Klingeln doch auch ganz schön wäre, und HG bemüht sich redlich, das Defizit in seinem Leben mit »Tiefe und Ernsthaftigkeit« aufzufüllen.
    Vor mir liegt einer seiner zahlreichen Versuche, ein Tagebuch zu führen. So etwas bricht gewöhnlich ab nach Seiten und Seiten Wortakrobatik, und vor Jahren, als ich das hier zum ersten Mal las, habe ich einen gelben Zettel draufgeklebt: »Der Junge ist gräßlich. Altklug, pompös, eigentlich unerträglich.« Das ist er nicht. Ich kannte ihn nur noch nicht. Zugegeben, er schreibt einen verstörenden Stil, aber das verliert sich später, und ich merke, daß er den Versuch unternimmt, mit sich zu Rande zu kommen. Am 26. Oktober 1920 geht das los in fehlerfreier Schreibmaschinenschrift. HG ist gerade 22 geworden und eben fertig mit seiner Lehre bei der Firma Prior. Da steht: »Wenn ich im Nachfolgenden versuche, zum dritten oder vierten Male eine Art Tagebuch zu führen, so veranlaßt mich dazu der Gedanke, daß es doch von großer Wichtigkeit ist, sein eigenes Wachsen und Werden im Laufe des Erlebens zu beobachten und daraus nach Jahren einerseits die zurückliegende Entwicklung in ihren Einzelheiten wieder zu verfolgen und sich zu erklären, andererseits aber, und dies ist wohl die Hauptsache, daraus wiederum für kommende Zeiten lernen zu können.«
    Schreibt er wirklich. In SEIN Tagebuch. Ich würde ihn gern schütteln: Mann, komm doch zu dir! Kann ich nicht. Statt dessen lese ich weiter: »Widerspricht es auch meinem tief in mir liegenden Sinn für Ordnung und restlose Ausführung aller begonnenen Arbeiten, so ergibt vielleicht doch – sollte dies hier Stückwerk bleiben – viel kleines Stückwerk zuguterletzt einen Bau, der, wenn auch äußerlich ärmlich und dürftig, so doch mit großer Liebe aufgeführt ist, mit der Liebe zum Erkennenwollen alles dessen, was Mensch sein, Leben haben heißt.« Auf der letzten Seite des Fragments finde ich den Schlüssel zu diesen Spreiz-Übungen: »Ich schreibe mit Durchschlag, um so gleich ein Abbild meines Lebens an die Eltern geben zu können.« Jetzt wundert mich gar nichts mehr.
    HG schildert zunächst akribisch die Qual seiner Lehrzeit in Hamburg und die Unbilden durch den Stoffel Michaelsen, der ihm ein liebenswürdig gelogenes Zeugnis mit auf den Weg gibt: »Herr Hans Georg Klamroth ist am 13. Mai 1919 bei mir in die Lehre gekommen und hat es derselbe verstanden, sich in kurzer Zeit meine ganze Sympathie zu erwerben.« Anschließend lese ich, wie HG nach Halberstadt fährt und mit Vater Kurt eine Flasche Champagner auf die überstandenen »Heimsuchungen« leert. Dann hat er erst mal frei. Das muß er lernen, und bei HG klingt das so: »Aus der Überzeugung heraus, daß das Leben uns eine Pflicht ist, eine Überzeugung, die meine Eltern mir wohl in meiner Geburt mitgegeben haben und seitdem durch weise Erziehung zu fördern wußten« – Himmel! – »erschien mir bis vor kurzem und namentlich infolge der Eindrücke während der Zwangszeit in Hamburg, jede freie Minute, d. h. jede Minute, die der Mensch nicht mit produktiver äußerlicher Arbeit ausfüllte, als Luxus, und deshalb als Verschwendung.«
    Im Verlaufe der nächsten faulen Wochen entspannt sich HG allerdings etwas, zumal viel los ist, unter anderem ein Ausflug mit dem neuen Auto zu Verwandten in Schlesien: »Eine herrliche Überlandfahrt war das, bei der ich mich ausnehmend wohl fühlte, und auch das mehrfache Geschrei der armseligen Fußgänger ›Schieber!‹ störte mich wenig. Wenn man nur ehrlich gegen sich selbst ist und in dieser Ehrlichkeit durchaus empfindet, daß man nichts Unrechtes getan hat und tut, dann können einem die anderen Menschen den Buckel runterrutschen.« Wer ist »man«? Das Auto gehört Kurt, und HG wird lediglich mitgenommen. Der junge Mann zieht sich eine falsche Jacke an.
    Bei Freunden dort in Schlesien trifft HG einen

Weitere Kostenlose Bücher