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Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)

Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)

Titel: Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wibke Bruhns
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über mich zu sagen, was mir aber gänzlich vorbeigelang. Ich muß ihr nun erstmal schreiben und erwarte sehr ihre Antwort, ob sie mir mein wahnwitzig ungeordnetes Gewäsch nicht übel genommen hat.«
    Armer HG, ich fühle mit dir deine roten Ohren. Aber laß dir sagen, daß es so schlimm meistens nicht ist, wie man sich hinterher fühlt. Denn HG wird doch in diesem Kreis angenommen, und seine Sehnsucht nach einer Freundin macht ihn nicht lächerlich. Als er begreift, daß die Klavierspielerin Dora mit Jochen, dem Vierten im Bunde, heimlich verlobt ist, gibt ihm das zwar »einen schmerzhaften Stich«. Aber er steckt seine eigenen, gerade aufgekeimten Gefühle zurück: »Es war mir sofort klar, daß Jochen unendlich viel würdiger ist, einen solchen Edelmenschen wie Dora sein eigen zu nennen, und ich sah, daß hier für mich nur – und dieses ›nur‹ ist keine Einschränkung – die lang ersehnte Gelegenheit war, das ›Weib‹ so achten und lieben zu lernen, wie ich es mir in meinen Träumen ausmale, und dabei selbst allmählich würdig zu werden, wie es Jochen jetzt ist – einem späteren großen Glück entgegen. In diesem Sinne will ich mit Dora nach Möglichkeit weiter in Verbindung bleiben, will ihr Fühlen kennen lernen als das meines Idealbilds, ohne persönliche Wünsche.« Dora und Jochen Granzow gehörten später, ganz ohne »Edelmensch« und ganz ohne Würde-Volten, zu HGs engsten Freunden. Die mochten sich – so einfach war das.
    Kurz nach dem Ausflug auf die schlesischen Güter ist HG mit Mutter Gertrud zu einem kurzen Erholungsurlaub in Braunlage. Dort treffen sie eine »ältere junge Dame, die großes Interesse an allerhand geistigen Fragen nimmt«. Mit ihr redet HG lange über Oswald Spengler und seinen »Untergang des Abendlandes«, ein kulturphilosophisches Traktat, das damals alle Welt in Aufregung versetzte. Sie parlieren über die »Erziehungsbedürftigkeit der großen Masse« und die »Betonung der Unbedeutendheit des einzelnen Ichs«. Allerdings macht HG es nicht anders als wir alle im Umgang mit spröden Bestsellern: »Ich gebe zu, daß ich meine Ansicht über den ›Untergang des Abendlandes‹ einstweilen lediglich auf die Einleitung des Buches und das erste Kapitel beschränken muß.«
    Die ältere junge Dame hat noch ein anderes Thema parat: Sie sei überzeugte Antisemitin, erzählt sie. HG: »Ich sagte ihr, daß ich’s auch sei mit der Einschränkung: wohl dem Kopfe nach, aber nicht im Herzen. Meine Ansicht hierüber ist je nach Stimmung geteilt. Ich kann manchmal sagen, daß ich die Juden wohl mit meinem Verstande als volkswirtschaftlichen Faktor anerkenne, sie im Herzen aus meinem Rasseinstinkt aber verabscheue. Ich sehe jedenfalls, daß es das Beste ist, wenn ich mich in der Praxis einstweilen noch möglichst fern halte von der Judenfrage. Durch Erfahrung, die ich ja in den kommenden Jahren noch Gelegenheit haben werde zu sammeln, komme ich wohl am ehesten zu einer brauchbaren Lösung.«
    Wie gehe ich damit um? Abgesehen davon, daß HG Herz und Verstand durcheinander bringt, bemühe ich mich um Sachlichkeit. Antisemitismus war mindestens seit Martin Luther oder meinetwegen seit Richard Wagner gesellschaftsfähig. 1893 zogen 16 Vertreter der Antisemitischen Partei in den Reichstag ein. Hitler konnte abschreiben bei dem Vorsitzenden des »Alldeutschen Verbandes« Heinrich Claß (»Deutschland den Deutschen!«), bei dem bayerischen Kavallerie-General Konstantin von Gebsattel oder dem Initiator des »Germanenordens« Theodor Fritsch, beim Deutschen Turnerbund, beim »Wandervogel«, dem Reichshammerbund, dem Reichsdeutschen Mittelstandsverband, den beiden Kirchen – die Aufzählung ist nicht vollständig. Forderungen, daß jede Vermischung von »jüdischer und germanischer Rasse« unter Strafe zu stellen und ein Zustand herzustellen sei, der Juden nur noch die Möglichkeit ließ, aus Deutschland auszuwandern, zirkulierten 1913 unter deutschen Entscheidungsträgern. Besonders betont wurde, daß Juden vor Verlassen des Reiches dem Staat ihr Eigentum zu übertragen hätten.
    Nach dem Krieg mußten Juden und Sozialdemokraten bei den Rechten als Sündenböcke herhalten und das häufig in Personalunion, denn die Arbeiterbewegung war seit jeher maßgeblich geprägt von jüdischen Intellektuellen. Doch der Antisemitismus war noch keine Volksseuche, die »Judenfrage« erst eins von vielen Politik-Themen unter Bürgerlich-Konservativen, Studenten und Akademikern. HG plappert hier nach, wie

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