Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
auch was Feines, und dann machen sie offizielle Besuche bei Leuten, die sie vorher schon zigmal gesehen haben. Was war das für eine merkwürdige Sitte! Ich stelle mir ungern vor, daß bei mir mittags um 12 jemand unangemeldet vor der Tür steht, dem ich auch noch eine Viertelstunde widmen muß, obwohl ich weiß, daß ich ihn oder sie demnächst sowieso für einen Abend einladen soll. Aber das machte man so. In Benimm-Büchern aus der Zeit finde ich auf Seiten und Seiten den »Besuchs-Kodex« beschrieben, vor einer Reise und nach einer Reise, vor Neujahr und nach Neujahr, mit Hut in der Hand, nie ohne Handschuhe – Else hat später in Halberstadt ein Besuchs-Buch geführt, wo drinsteht, wer ihnen alles seine »Aufwartung« gemacht hat, und ob und mit wem der oder die dann eingeladen wurden.
Nachdem das Brautpaar Wismar und Umgebung abgeklappert hat, muß in Halberstadt die nämliche Prozedur durchgestanden werden. Hier leuchtet das ein, denn Else ist zum ersten Mal in dem Ort, der ihr Zuhause werden soll, und niemand kennt sie. HG ist nervös: »Ob Else sich wohlfühlt hier?« Sie wird herzlich empfangen mit einem von Kurt junior komponierten Willkommens-Choral und einer launigen Aufführung der Geschwister, aber einfach ist das Ganze nicht.
»Else findet sich schwer hinein«, notiert HG, was nicht verwundert. Die Börde und die Berge sind etwas anderes als der luftige Seehafen Wismar, die Menschen sind so schwer wie ihre fette Scholle, und daß sie »amüsant« wären, kann ihnen keiner nachsagen. Else, die zeit ihres Lebens ostentativ mit »Else Klamroth, geb. Podeus« unterschrieb, formuliert später für die Enkelkinder: »Ich war entschlossen, mich durchzusetzen.«
Mit fehlender Loyalität hat das nichts zu tun, Else hat dieser Familie immer die Stange gehalten. Auf ihre eigene Handschrift aber mochte sie nicht verzichten. Das wird ein zäher Kleinkrieg, unter dem Deckmantel äußerster Höflichkeit geführt. Schon gleich nach der Verlobung geht das los. Gertrud rügt, daß die Brautleute sich öfter abends zurückziehen in HGs Zimmer – sie nennt das HGs und Elses »Selbständigkeit«. HG weist seine Mutter wütend zurecht, Else strahlt sie an: »Ich liebe ihn sehr, das weißt du. Deshalb muß ich manchmal mit ihm allein sein und draußen ist mir das zu kalt.« Es ist November. Als Paul Podeus nach Halberstadt kommt, um »sin lütt Döchting« in der neuen Umgebung zu sehen, vermerkt HG vorher »leise Beklemmung«. Deshalb verschwinden sie alle drei zu den Herbstjagden auf den umliegenden Familiengütern, wo die Männer Hasen schießen und Else mit einem dänischen Wildrezept brilliert.
HG hängt in ernsthaften Auseinandersetzungen mit Vater Kurt. Der hat, während der Sohn in Curaçao war, über dessen Kopf hinweg eine langwierige Reise in die USA für ihn festgezurrt im nächsten Jahr und ihn für die Zeit davor als Betriebsassistenten in die Chemiefabrik »Union« nach Stettin verkauft. HG ist fassungslos. Er und Else wollten im Frühjahr heiraten, HG hat einen Job in Aussicht in Hamburg, wo das junge Paar dann wohnen wollte, und überhaupt findet er, es sei an der Zeit, daß er sein Leben selbst in die Hand nähme. Der Haken ist: HG ist nicht nur mental, er ist vor allem finanziell von Kurt abhängig. Der Job in Hamburg würde kaum seinen Mann ernähren und schon gar nicht Mann und Frau, und Elses Geld schwindet bei den steigenden Preisen dahin – ein Jahr später überweist ihr Paul nach der Hochzeit 100 000 Mark, das ist der Rest der ursprünglichen Million und zu der Zeit schon kaum noch etwas wert.
Sich zu fügen, fällt HG nicht leicht. Während der Überfahrt nach Amerika grübelt er darüber nach, »warum ich nicht stark genug bin, mich zu widersetzen«. Die Antwort ist einfach: Eine Weigerung wäre nicht vernünftig gewesen. Solche Reisen in die USA waren 1921/22 schwierig zu organisieren, und Hospitanten-Jobs wie der in Stettin lagen auch nicht auf der Straße. Und schließlich verfolgen Vater und Sohn das gleiche Ziel – HGs Eintritt bei I. G. Klamroth. Stettin und die USA laufen unter Ausbildung, Erfahrungen sammeln, Horizont erweitern. HG sieht ein, daß das nicht falsch ist. Ihn stört, daß der Vater ihn hin- und herschiebt wie eine Schachfigur. Und warum tut Kurt das? Weil er weiß, daß nach der Hochzeit ziemlich schnell Kinder kommen und die Bereitschaft rapide absinken wird, sich den Wind der Welt um die Nase wehen zu lassen. Den aber braucht die Firma, die sich dieser Welt
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