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Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)

Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)

Titel: Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wibke Bruhns
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gleich noch mal auf englisch »Letters from a selfmade merchant to his son«.
    HG fühlt sich gelegentlich »rausgeschält aus der richtigen Welt, die sich weiterdreht, und ich gehöre nicht mehr dazu«. Ihm ist das unheimlich, und er hält sich fest im Kartenhaus, wo »ich sehe, daß ich tatsächlich irgendwo bin. Jemand hat das gezeichnet und vermessen, und ich kann den Finger darauf legen. Das Papier wird wirklicher als der Himmel und das Wasser um mich herum.« Um Kater-Anfälle dieser Art zu vermeiden, lernt HG auf der Rückfahrt Dänisch. Ihr Frachter kommt aus Kopenhagen, und HG nervt jeden vom Kapitän abwärts, indem er mit ihnen das spricht, was er für Dänisch hält.
    Das Ergebnis ist verblüffend. Vier Wochen Schiffspassage reichen aus, HG fit zu machen in dieser Sprache, die zwar eine entfernte Verwandte des Deutschen ist, aber völlig anders ausgesprochen wird und in der Grammatik, im Vokabular kaum Ähnlichkeit hat. Kein Mensch, der deutsch spricht, kann deshalb automatisch Dänisch. Ich kann das beurteilen, denn Dänisch hat mich angeflogen als Kind, und ich habe Briefe von HG, die er ein paar Monate nach seiner Rückkehr aus Curaçao an dänische Adressaten geschrieben hat. Da steckt nicht ein Fehler drin, weder in der Wortwahl noch in der damals noch komplizierten dänischen Orthographie.
    Mit diesem Pfund wuchert er. Fünf Tage, nachdem Theo und er in Bremerhaven an Land gegangen sind, ist HG in Dänemark, das später zu seiner zweiten Heimat wird. In Nyköbing am Bahnhof wartet Else. Sie schreibt ins Goldschnitt-Buch: »Ich hatte so auf Dich gewartet, und jetzt war es, als ob Du nie weg gewesen wärest.« HG in sein Tagebuch: »Ich habe Else so viel zu sagen, habe sie so lieb!« Sie kommen nicht dazu, sich in Ruhe aufeinander einzustellen, denn in Bandholm ist diamantene Hochzeit. Elses Großeltern sind 60 Jahre verheiratet, und alles, was Beine hat, ist unterwegs, das Jubelpaar zu ehren.
    Ich weiß, wie so was geht in Bandholm, heute noch. Das winzige, blank geputzte Hafenstädtchen ist über die Toppen geflaggt, jeder hängt die Dannebrog raus, die Zäune in den wenigen Straßen sind mit Girlanden geschmückt, und die Leute – jeder kennt jeden – stehen in ihren Vorgärten und applaudieren, wenn ein Brautpaar, ein Jubelpaar mit seinen Gästen oder die Trauergemeinde einer Beerdigung zu Fuß hinter dem Sarg zur Kirche gehen. Das Fest der alten Cruses, Dagmars Eltern, dauert zwei Tage, HG ist der einzige »Neue« in diesem eingespielten Kreis, und sein Auftritt dort ist bis heute Legende. Immer noch erzählen mir die Enkel der damaligen Gäste die von den Eltern den Kindern überlieferte Geschichte: Da war dieser fremde junge Mann, gerade erst 23, braungebrannt, gutaussehend im Frack, ein bißchen still zunächst.
    Nachdem alle Reden an dieser 100-Personen-Tafel geredet worden waren, stand er auf und klopfte an sein Glas. Erst gratulierte er dem Jubelpaar mit artigen, gesetzten Worten, dann wirbelte ein Feuerwerk los an Witz und Frechheit über Ruhm und Ruf der versammelten Gesellschaft. Er habe sich abgehetzt hierher durch Sturm und Wind, um bei der illustren Gelegenheit einer diamantenen Hochzeit einen Fuß in die Tür dieser einzigartigen Familie zu bekommen. Den werde er von nun an nicht mehr zurückziehen, den Fuß, und irgendwann werde er mit Elses Hilfe einer von ihnen sein – darauf könnten die Anwesenden sich verlassen. Das Ganze auf dänisch, zum Teil in Versen.
    »Wer ist das denn?« – »Das ist Elses Bräutigam.« – »Else ist verlobt?« – »Nein, aber bald.« – »Ist das ein Däne?« – »Nein, ein Deutscher.« – »Ein Deutscher? Der spricht doch dänisch!« HG war der Star des Abends. Ich kann die Geschichte singen, sie wird immer gleich erzählt. Was mich beeindruckt daran, ist HGs Chuzpe. Der kannte von der Hundertschaft vor ihm so gut wie niemanden. Er war zum ersten Mal in Dänemark, er sprach eine Sprache, die er von einer Schiffsbesatzung gelernt hatte – das hätte ja auch ins Auge gehen können, etwa so, als hielte ein Ausländer das Berliner Idiom für Deutsch. Aber er hat den ganzen Klan an diesem Abend eingesammelt. Sie haben ihn geliebt, obwohl er später Besatzungsoffizier wurde in ihrem Land, und sie haben seinen Tod betrauert.
    Als Else und HG zurück sind in Wismar, das ist im Oktober 1921, werden die Verlobungsanzeigen verschickt. 250 sind es, Blumen und Geschenke strömen nach Ravelin Horn. HG zieht den Cut an und den »hohen Hut«, Else

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