Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
HGs Geltungssucht erklärt auch, mir jedenfalls, warum er einen derart geschraubten Schreibstil entwickelt hat. Aber das wird ja besser. Wenigstens das.
Weshalb legt HG das große Geständnis gerade zu diesem Zeitpunkt ab? Else und er haben kurz zuvor zum ersten Mal eine Nacht miteinander verbracht. Zur Feier ihrer einjährigen Verlobung, es ist der 19. Januar 1922, sind sie ins tief verschneite Chorin gefahren. Sie laufen stundenlang durch die »wunderweiße Welt. Eiskalt«, übernachten in der Klosterschenke, und danach ist HG wie in Trance. »Sehnsucht, brennende unvernünftige Sehnsucht nach Else« steht in endlosen Variationen im Tagebuch. HG telefoniert fast täglich mit Wismar. Das muß damals noch angemeldet werden und ist mit Warten verbunden und mit Kosten, aber es hilft wenigstens vorübergehend gegen die »Qual und große Nervosität«. Denn jetzt sind die schwarzen Vögel wieder da: »Darf ich Else an mich fesseln, so wie ich bin?« Die Frage kommt ein bißchen spät. Die Lügen-Enthüllung ist datiert auf den 3. Februar.
Eine Woche lang ist HG krank – er reagiert auf seelische Belastungen häufig mit Fieber – seine Akne blüht: »Ich bin körperlich ein greuliches Wrack und geistig ist es nicht besser.« Dann kommen »zwei so liebe, liebe traurige Briefe von Else. Ach, wenn ich doch gleich bei ihr wäre.« Ich kenne diese Briefe nicht, aber bitte was hätte Else denn machen sollen? Sollte sie, nachdem sie HG »gehört« hatte, wie das damals ja wohl hieß, sich und allen anderen sagen: »So einen will ich nicht«? Sollte sie einem möglichen Nachfolger HGs erklären, daß der Verlust ihrer Jungfräulichkeit ein Irrtum war? Else war sehr souverän, aber so souverän nun doch nicht. Es war damals leichter, sich scheiden zu lassen, als eine Verlobung zu lösen, die mit einem »Defekt« behaftet war. Als meine Jungfräulichkeit – unverheiratet – dahinging, hat Else mir einen Brief geschrieben, ich hätte nun mein Leben verpfuscht – das war immerhin 35 Jahre später!
Ich weiß, ich sollte mich da raushalten, aber mir gefällt die Geschichte überhaupt nicht. Hätte HG es wirklich ernstgemeint mit der Verachtung seiner »charakterlichen Mängel«, hätte erst deren Offenlegung kommen müssen und dann die Nacht in Chorin. So hätte Else eine Chance gehabt zu entscheiden, ob sie das Ganze »amüsant« finden soll oder bedrohlich. Wenn sie »traurige« Briefe schreibt, legt das den Schluß nahe, daß sie die Sache als das begriffen hat, was sie war, als den Mißbrauch ihres Vertrauens. Doch Else kann nicht zurück, will sie vermutlich auch nicht, denn sie liebt HG, und sie wird nur zu gern seinen Beteuerungen geglaubt haben, von nun an werde alles anders.
So fährt HG guten Mutes nach Amerika. Er verläßt ein Land, das von Streiks und Unruhen geschüttelt ist und dessen Währung verfällt. Die Reichsregierung gibt Ende April 1922 bekannt, seit Mai vorigen Jahres seien für die Kriegsgegner 555 Millionen Goldmark an Sachleistungen erbracht und 1 294 888 487.62 Goldmark an Reparationen gezahlt worden – was ist das denn, wenn man es ausspricht? Tatsächlich nur eine Milliarde zweihundertvierundneunzig Millionen etc., also gar nichts im Vergleich zu dem, was erwartet wird. Die Franzosen haben denn auch schon mal Düsseldorf, Duisburg und Ruhrort als Faustpfand besetzt und drohen, sich das gesamte Ruhrgebiet einzuverleiben.
In Deutschland wächst deswegen der Terror der extrem rechten Nationalisten gegen republikanische »Erfüllungspolitiker«. Diese »Erfüllungspolitik« war im Mai 1921 vom Reichstag beschlossen worden und hieß, den Versailler Vertrag und die Reparations-Forderungen ohne wenn und aber zu akzeptieren. Die Kriegsgegner, so das Kalkül, würden schnell erkennen, daß man einem nackten Mann nicht in die Tasche greifen kann, und ihre Forderungen reduzieren. Den Nationalisten war das ein Dorn im Fleisch der deutschen Ehre. Es gab mehr als genug dieser Leute im Land. Hatten sie noch vor drei Jahren in Freikorpsverbänden und Studentenkompanien dem SPD-Reichswehrminister Gustav Noske geholfen, sozialdemokratische und kommunistische Aufstände niederzumachen, im Baltikum für den Fortbestand deutscher Vorherrschaft und in Oberschlesien gegen die Polen gekämpft, waren sie jetzt offiziell aufgelöst und arbeitslos. Doch sie waren nicht verschwunden. Manche krochen in der neuen Reichswehr unter, die meisten bemühten sich um bürgerliche Existenzen, während sie in
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