Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
gebreitet haben, vielleicht hat er Else nur mit solchen Diktaten eingedeckt, damit sie auch in der Arbeit nah zusammenrücken. Und sie schreiben sich gegenseitig. Es gibt in Leder gebundene, goldgeprägte Kladden, diese größeren Geschwister von Poesie-Alben, wodrin Else und HG sich ihre Gefühle mitteilen. Else hat mit spitzem Messer ihre Seiten größtenteils herausgetrennt, HGs Seiten beginnen am 20. Januar 1921, gerade mal einen Tag, nachdem er »bloß geguckt« hat und daraufhin verlobt war. Sie beginnen mit dem Schützen Vitt.
Er bringt eine parabel-förmige Geschichte zu Papier über einen jungen Mann, der ruhelos unter den unendlichen Sternen der ukrainischen Nacht herumreitet – »allein, ganz allein« – auf der Suche nach dem »Tempel Leben«. Daraus wird nichts, denn die »Göttin Schuld« hält ihn harsch zurück. Sie hat ihn aufgefangen, »als er um eine halbe Sekunde zu früh die Pistole losgehen ließ. Seither schwebt sie überall über ihm und hält all seinem Denken und Tun ihren schwarzen Mantel vor: Büße!« Klar, wie die Geschichte ausgeht: Else ist die neue Göttin, die stärker sein wird als die düstere Dame, und wenn Else ihre Kraft einsetzt, wird die andere – HG: »Ich bete darum!« – sich schließlich schleichen.
Ich muß aufpassen, HG nicht zu denunzieren. Denn die Geschichte kann ich wieder nur mit gewissem Ächzen lesen, aber was heißt das denn? Es ist seine Geschichte, und es rührt mich an, daß sein neues Glück mit Else und das alte Trauma um den Schützen Vitt so dicht nebeneinanderliegen. Den leisen Verdacht, er könne die Gelegenheit genutzt haben, sich bei Else als tragischer Held aufzuspielen, verbiete ich mir.
In diesen Goldschnitt-Kladden beschäftigt HG sich viel mit dem Verschmelzen von Elses und seiner Seele – doch, der »Wirklichkeitsmensch« HG hat seine Seele entdeckt! – mit der »Vollendung zu zweien« und mit seinen keineswegs nur koketten Selbstzweifeln: »Ist es nicht doch eine furchtbare Schwäche von mir, all meine unklaren, kaum zur Hälfte durchdachten Wünsche, all mein oft so tobendes wildes Sehnen nach Geschlossenheit und Ruhe, mein ganzes noch so unendlich weit vom wahrhaft Männlichen entferntes Ich mit seiner unglaublichen Unfertigkeit gerade dem Menschen ans Herz zu legen, den ich vor allen Steinen und Schlägen des Lebens, vor allem Ringen und Kämpfen ach so gern behüten möchte?!«
Else hält solche Sätze aus, aber sie sieht das Ganze unkomplizierter: »Hans Georg, ich liebe Dich! Ich erwartete in der ersten Zeit immer ein Aufwachen und dann ein Erkennen der Unmöglichkeit, Dich heiraten zu können. Ich bin aufgewacht, aber zu der Erkenntnis, daß ich eben nur Dich heiraten kann. Nur Dich – mit Dir will ich zusammen leben, eins werden, mit Dir wie Du bist, ich will nichts abziehen, nichts dazu haben, so wie Du bist und was aus diesem Du noch einmal werden wird. An Dir werde ich wachsen, ich werde Dir, Du wirst mir weiter helfen, Du und ich wollen zusammen ringen, wie schön ist es doch, daß es das gibt, daß zwei eins werden können, wir wollen es, Liebster – Du.«
Else will allerdings aufpassen, damit es nicht schiefgeht mit der Liebe: »Einem kommen doch so allerhand Gedanken, wenn man sich Ehen näher besieht und wenn man erkennt, was man von vornherein beachten muß, damit nicht der eine oder der andere zum unerträglichen Tyrannen wird. – Sollte es nicht möglich sein, daß der nervöse und stark beschäftigte Hausherr sich auch zu Hause beherrscht, oder muß die Frau als Ableiter herhalten, und wenn sie es sich nicht gefallen läßt, eins von den Kindern? Es ist nichts häßlicher als ein launischer Mann, bei einer Frau ist es schon schlimm, aber bei einem Mann ist es verächtlich.«
»Ist das denn überhaupt ein Leben, überhäuft mit öffentlichen Ehren, Ämtern, Verpflichtungen und noch daneben die eigene Firma und eine ewige Unruhe, Hast und Eile, sieht seine Familie kurz bei den Mahlzeiten, abends Sitzungen, Essen oder müde, nervös, unbeherrscht zu Hause. Ist denn das den Einsatz wert? Und was bleibt davon übrig? Eine Menge Geld, ein ehrenvolles Begräbnis und das Gefühl, vom ›Leben‹ eigentlich nicht so übermäßig viel gehabt zu haben, nur man hat sich zum Sklaven gemacht und zum ›rühr mich nicht an‹ in der Familie.«
Da hat sich wenig geändert in 80 Jahren, nicht wahr? Wen sie wohl am Wickel hatte mit dieser Philippika – ihr Vater Paul wird es nicht gewesen sein, denn der war mehr
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