Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
gehabt, offen mit ihm zu reden, dann wäre heute vielleicht manches anders.«
»Die Lüge ließ sich trefflich anwenden als Mittel meines Ehrgeizes. Ich wurde bei Kameraden und Bekannten und allgemein gesellschaftlich rasch beliebt – wodurch? Ich konnte so unterhaltend plaudern, aus den kleinsten Erlebnissen witzige Geschichten machen. Von all dem, was ich in den letzten Jahren zu erzählen pflegte, ist wohl nichts buchstäblich wahr. Ich brauche nur an das angebliche Erlebnis mit der alleinfahrenden Hochzeitsreisenden zu denken, die Sache mit dem Telefon und den Dänen in Hamburg, Vaters angebliche Zauberei mit der Belohnung, unzählige angebliche Kriegserlebnisse – alles, alles Lüge! Was für ein Balance-Akt, welches Wagnis im öffentlichen Leben: wie oft kommt es vor, daß ich mich ängstlich hüten muß, zwei oder mehrere meiner Bekannten, namentlich aus verschiedenen Zeiten, zusammenzuführen, weil ich nicht mehr genau weiß, was ich diesem so und jenem so erzählt habe. Alles wird zur Gefahr. Aber das wäre zu ertragen, wenn das andere, das Eine nicht wäre: welcher Ekel vor mir selbst!«
In der Nacht, nachdem Else und er sich verlobt hatten, sei HG – so schreibt er – noch lange wach geblieben und habe gebetet: »Laß mich alles büßen, Herr, nur ihr gegenüber laß mich wahrhaftig bleiben, laß nie eine Lüge zwischen Else und mich treten!« Wie ein Süchtiger ist er dann doch der Versuchung erlegen, hat Else wenig später »das ›große‹ Kriegserlebnis erzählt, ich sah, daß es Eindruck auf Dich machte, und schnitt auf, wie gewöhnlich. Ich log. Versinke ich nicht in den Boden vor Scham?« Und er listet eine Vielzahl von Lügen-Geschichten auf, alle dazu angetan, ihn in Elses Augen größer und schöner erscheinen zu lassen – »und Dein Vertrauen zu mir wuchs immer mehr«. Was nun? HG sinniert über mögliche Ursachen nach, von »Großtuerei« bis zu einem »geistigen Defekt«, und er bittet Else um Hilfe. Ohne sie, sagt er, kriegt er sich nicht in Ordnung.
Mit ihr auch nicht. Ihre Antwort auf dieses Bekenntnis hat Else herausgetrennt aus dem Goldschnitt-Buch, aber auch so fällt mir einiges dazu ein. Sie wird sich eingeredet haben, so schlimm sei das schon nicht und sie würde das in den Griff bekommen. Auch wenn Else HGs Fabulier-Sucht – bei Fachleuten heißt das »pseudologia phantastica« – für ein wirkliches Problem gehalten hat, dann durfte sie mit Fug und Recht erwarten, daß sich das mit seiner Offenbarung erledigt habe. Nie wieder! Es hatte sich aber nicht erledigt. Als ich noch Menschen befragen konnte, die HG gekannt hatten, hörte ich immer wieder, wie witzig, wie intelligent, wie begabt dieser Mann gewesen sei – »aber was hat er gelogen!« Ich habe noch die Geschichte im Ohr, wie aus dem Tennisplatz hinterm Halberstädter Haus ein Flugplatz wurde mitsamt der komplizierten Landung einer Kurier-Maschine im Zweiten Weltkrieg.
Else hat das wahnsinnig gemacht. Ich bin als Kind in den Schrank gesperrt, ohne Essen ins Bett geschickt, mit der Reitgerte verprügelt worden, weil ich »gelogen« hatte – ich war ein phantasievolles Kind voller Geschichten, wie HG sie erfand. Else dachte sich deswegen sogar mal eine »Verhaftung« für mich aus als Strafe, einen regelrechten Gang ins Gefängnis mit einem Uniformierten, der mich abführte. So sensibilisiert, so beschädigt war sie durch HGs Form von mentaler Ausschweifung. Es hat nichts genutzt. Ich habe mich weiter mit erfundenen Geschichten aufgeblasen, bis sie sich von selbst verflüchtigten.
HG hat das nicht gepackt, soweit ich weiß. Daß Else noch nicht mal Notlügen durchgehen ließ – dabei sparen die doch so viel Zeit! –, läßt mich darauf schließen, daß HG sie später nicht nur mit seinen hanebüchenen Geschichten genervt hat, sondern mit handfesten Unwahrheiten. Die Demütigung, die einer ertragen muß, wenn der Betrug des Partners von Lügen begleitet wird, ist ebenso Verrat an der Gemeinsamkeit wie der eigentliche »Fehltritt«.
Warum mußte HG sich in eine solche Wolke von Phantasie-Geschichten hüllen? Ich finde in seinen Aufzeichnungen die Feststellung, »daß ich von Kindheit an unter einer geradezu abnormen, quälenden Schüchternheit und Angst gelitten habe, und daß mein äußerlich so ganz entgegengesetztes Wesen und Auftreten nur wieder der Angst entsprang, jene erste Angst zu zeigen«. An anderer Stelle: »Man müßte untersuchen, wie sehr Schüchternheit und Eitelkeit einander bedingen.«
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