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Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)

Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)

Titel: Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wibke Bruhns
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öffnen muß, will sie unter den neuen Verhältnissen bestehen.
    Kurt entschuldigt sich bei HG, die Entscheidung habe schnell getroffen werden müssen und der Sohn sei nicht greifbar gewesen. Allerdings wird Kurt nach HGs entschlossenem Alleingang bei der Verlobung vollendete Tatsachen geschaffen haben. HG aber, der nun erneut folgsame Sohn, fällt zurück in überwunden geglaubte kindliche Servilität: »Ich war auf eine fremde Weise passiv, die Stärke, die ich in mir wachsen fühle, trägt noch nicht.«
    In den folgenden Monaten wird HG verfolgt von »schwarzen Vögeln«. Schon früher tauchten ab und an solche Anwandlungen bei ihm auf: »sehr schlechte Laune« – »grundlos mißgestimmt« – »plötzlich Düsternis«. Jetzt sind es »schwarze Vögel«, die ihn aus dem Nichts überfallen. Else ist nicht der Grund, im Gegenteil. Nach der anfänglichen Enttäuschung, daß HG schon wieder so weit weg fährt, stärkt sie ihm den Rücken für die USA-Reise. Auch Stettin findet sie in Ordnung: im Anschluß an die praktische Erfahrung in der Phosphat-Mine auf Curaçao sei es wichtig, daß HG verstehen lerne, was mit dem Zeug in der Chemiefabrik passiert. HG ins Tagebuch: »Else er den mest henrivende pige paa verden« – Else ist das hinreißendste Mädchen auf der Welt.
    Die schwarzen Vögel kommen auch nur, wenn sie nicht da ist. Nicht weil sie nicht da ist. HG und Else haben gelernt, mit den häufigen Trennungen umzugehen, solange die Post so schnell ist und man auch mal telefonieren kann. Aber wenn sie kommen, die schwarzen Vögel, dann fällt HG in ein Loch voller Selbstzweifel, angefüllt mit Verachtung über die eigene Unzulänglichkeit: Er weiß nicht genug, sein Urteil ist nicht fundiert, er ist nicht souverän, er läßt sich zu leicht beeinflussen – »wenn mir heute jemand seine Meinung schlüssig vorträgt, schließe ich mich dieser an, und morgen kommt ein anderer mit der gegenteiligen Auffassung, die er auch gut begründet, und dann glaube ich dem«. HGs Welt, die bei der Armee zweifelsfrei aufgeteilt war in Schwarz und Weiß, seine festgefügten Koordinaten von Richtig und Falsch haben sich verflüchtigt in »vielleicht« und »einerseits, andererseits«. Er lernt verstört, »daß Überzeugungen sich ändern können, selbst Erfahrungen nicht immer gültig sind«. HG wird erwachsen.
    Seine schwarzen Vögel sitzen nicht nur auf seiner »skandalösen Unkenntnis«, nicht nur darauf, daß er mühsam lernt, Fragen zu stellen, wo er sich vorher mit seinen schnellen Antworten sicher fühlte. HG zweifelt an seiner charakterlichen Lauterkeit, und in einem der Goldschnitt-Bücher bündelt er das für Else in dem Satz: »Ich lüge!« Über Seiten und Seiten rechnet er mit sich ab. Er lügt nicht, um Versäumnisse zu kaschieren – »die Überweisung ist längst raus«, wenn jemand die Bezahlung einer Schuld anmahnt, kommt bei ihm nicht vor. Auch nicht die Ausrede, »da war ein Unfall auf der Straße«, wenn er zu spät kommt. HG kommt nicht zu spät. HG erfindet Geschichten.
    »Eins steht wohl fest: ich log als Kind nicht und lüge heute nicht ›in böser Absicht‹. Ich schmücke aus, ich dichte, ich schneide auf, ich schwindele – aber das ist alles Selbsttäuschung. Ich lüge.« Seit HG denken kann, hat er sich wichtig gemacht: »Ich erinnere mich, daß ich als kleiner Schuljunge gern Geschichten ausdachte und sie als wirklich selbst erlebt den Eltern erzählte. Ich hatte viel Phantasie, und ich merkte, daß meine Erzählungen vielfach mit Erstaunen, ja Ver- und Bewunderung von meiner Umgebung aufgenommen wurden. Zu meiner Phantasie kam der Ehrgeiz.«
    HG rechtet mit seinen Eltern: »Warum haben sie mich nicht geschlagen, so, daß ich beim ersten Schlag genug gehabt hätte?! Warum sahen sie mich bloß mit sanftem Vorwurf an, statt mich im Dunkeln einzusperren und mich tagelang hungern zu lassen, so daß das Kind mit Schrecken und Furcht an diese Folgen seiner Lüge zurückgedacht hätte?! Sie sagten: ›Was hat der Junge für eine Phantasie!‹ statt zu sagen: ›Wehe uns, das Kind lügt! Wie rotten wir das aus?‹« HG unterstreicht sehr selten. Dies hier ist doppelt markiert mit wütenden Strichen der Empörung. »Ich erinnere mich, daß ich viele Jahre später ein heftiges Gefühl des Neides empfand, als Wolf mir einmal 1917 in Döberitz sagte: ›Mein Vater hätte uns Kinder getötet, wenn wir je gelogen hätten. Ein Yorck bringt nie eine Lüge über seine Lippen.‹ Hätte ich damals den Mut

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