Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
ein Kind gebaut sein, um einer solchen Erwartungshaltung gerecht zu werden? Jetzt wird erst mal getauft, das ist im Januar 1926. Der Junge heißt Joachim Gerd Klamroth, genannt Jochen, ein echter I. G. K. für die Firma, er ist als sechster in der Reihe vorgesehen. Als es so weit war, lebte HG nicht mehr, die Firma lag in Trümmern. Planungen waren hinfällig. Die Taufe wird wieder am Bismarckplatz gefeiert, wieder sind die Familien-Preziosen auf dem Altar aufgebaut, wieder werden Händel-Stücke gespielt und Bach-Kantaten gesungen. Jochen trägt erstmals ein kostbares Spitzentaufkleid, das Dagmar Podeus aus der dänischen Sippe hervorgekramt hat. Ich bin auch dadrin getauft worden, der Krieg hat es verschluckt.
Die Feierlichkeit wird dadurch beeinträchtigt, daß der Täufling schreit wie am Spieß. Beim Festessen für 32 Personen redet der Taufvater in Versen, die in dem Satz gipfeln: »Im übrigen – es ist mein Sohn!« Kurt stellt in seiner Rede die unverkennbare Ähnlichkeit des Säuglings mit dem Urahn Louis Klamroth fest – armer Jochen, der war so häßlich! Aber ein begnadeter Kaufmann war er, und wenn einer in dessen Schuhe reinwachsen soll, dann hat er gut zu tun. Damit quälen sich auch Kurt und HG, die Zeiten sind nicht gemacht für wirtschaftliche Kreativität. HG am 1. Januar 1926 im Tagebuch: »Kreditnot und Geldmangel überall, Pleiten, Geschäftsaufsichten etc. Wir schließen unser Geschäftsjahr zum ersten Mal mit Verlust; wie wird es übers Jahr aussehen?«
Erst mal schlecht: Die Kunden zahlen nicht, zweimal muß HG beim Bankhaus Vogler größere Summen leihen, weil sonst das Geld für die Gehälter nicht gereicht hätte. Ein paar Tage später kündigt Vetter Vogler den Kredit, dem geht es offenbar auch nicht gut, und I. G. Klamroth fehlen 75 000 Mark. Else macht aus HGs Not ein Spektakel. Sie lädt 14 Leute zu einem »Deflations-Dinner« ein, das Menu: Rote-Beete-Suppe, Sauerkraut und Pökelfleisch, zum Nachtisch Bratäpfel mit Johannisbeer-Kompott – alles aus dem Keller, einschließlich HGs Wein, mit dem sie sich »sehr fidel die Nase begießen«.
Dabei ist das allgemeine Klima im Land gar nicht trübsinnig. Im Oktober 1925 wurden die Locarno-Verträge unterzeichnet, die Deutschland den Weg zurück in den Kreis der europäischen Großmächte ebneten. Die Westgrenzen mit Frankreich und Belgien wurden festgeschrieben, dazu kam im Juni 1926 der deutsch-sowjetische Vertrag wechselseitiger Neutralität und im September 1926 der Eintritt Deutschlands in den Völkerbund. Nun war nicht mehr von Siegern und Besiegten die Rede, hier begegnete man sich auf Augenhöhe. Die Reparationen räumte das zwar nicht vom Tisch, aber als Lohn winkten vermehrte Auslandskredite und ein verbessertes internationales Ansehen. Im Dezember 1926 konnte man das greifen: Gustav Stresemann und sein französischer Kollege Aristide Briand bekamen den Friedensnobelpreis.
Nichts von dem ist in HGs Tagebuch vermerkt. Nun hat HG nur fünf Zeilen pro Tag in diesem Jahr-um-Jahr-Buch; wenn er klein schreibt, vielleicht zehn. Berlin und die Politik sind von Halberstadt weit entfernt, wenn eine Firma laufen soll, wenn zu Hause drei kleine Kinder Rabatz machen, wenn man die Freunde zusammenhalten, die »Gesellschaft« bedienen will und ein Satz zwischen Tür und Angel mit der geliebten Frau nicht ausreicht. HG ist 27 – und mittlerweile erwachsen.
Doch er ist jung, wenn er mit seinen winzigen Töchtern durch den tiefen Schnee kullert – was gab es für Winter! Sie klauen alle miteinander im Keller Mohrrüben, um vor Else die »Schneemann-Patrouille« aufzuführen, HG hat einen Heidenspaß an »kindlichen Spielen«, an Mikado zum Beispiel, wobei er Barbaras knubbelige Finger führt, oder später an »Maler Klecks«, ein Quartett, das ich noch auswendig kann: »Der Maler Klecks malt Eis und Schnee, und seine Frau mahlt den Kaffee, der Sohn beschmiert des Nachbars Wände, das Töchterchen hat schwarze Hände.« Die putzt Schuhe auf der gemalten Karte, und HGs »bedaure!!«, wenn er nicht bedienen konnte, wurde zum geflügelten Wort. Er geht mittags nicht nur zum Essen nach Hause, »Frau und Kinder knuddeln« steht im Tagebuch, und wenn HG nicht reitet, weil es regnet, kriechen alle drei Sprößlinge morgens in sein Bett – »großes Gelächter«.
Ich finde für 1926 sage und schreibe drei Fehlgeburten in HGs Tagebuch – im Januar, im März und im September. Dazu kommen für 1927 die beiden Abtreibungen – das beruhigt
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