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Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)

Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)

Titel: Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wibke Bruhns
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mich zwar im Hinblick auf ihre Zweisamkeit, denn Else wird ja nun nicht jedesmal schwanger geworden sein. Aber was machen die denn da? Es gab auch damals schon Möglichkeiten, Schwangerschaften zu vermeiden, die wären doch angesagt gewesen bei einer Frau, die so konzeptionsfreudig ist wie Else. Sie verschwindet jedes Mal für einen oder zwei Tage in der Klinik, hinterher ist sie zu Hause »matt«. Muß das sein?
    Wenigstens hat Else an der neuen Mode ihre Freude – taillenlose Kleider kaschieren ihre kinder-geschädigte Figur, kurz sind sie, was ihre schönen Beine zur Geltung bringt, und die Topfhüte entheben sie ihrer Sorgen um die Frisur. Sie kommt aus Berlin mit einem Bubikopf zurück, was in Halberstadt, besonders am Bismarckplatz, Befremden hervorruft – dunkel ahne ich, daß Ideologie im Spiel ist, Großstadt gegen Kleinstadt, »Moderne« gegen Bewahrendes. Einer Zeitungsnotiz aus der Zeit entnehme ich, daß der Verein »Deutschtum im Ausland« Bubikopf-Mädchen als »andershaarig« ausschließt. Jedenfalls gibt es Krach zwischen Schwiegermutter Gertrud und Else über den »Leichtsinn«, Else verbittet sich Unterstellungen, und nachdem seine Vermittlung bei Gertrud scheitert, nimmt HG seine Frau samt Bubikopf vehement in Schutz. HG: »Zuhause heult Else vor Wut!«
    Er ist ein vorzüglicher Moderator, das hat er von seinem Vater gelernt, aber die Anforderungen der Mitwelt nehmen gelegentlich überhand. Im Kontor nerven ihn Streitigkeiten zwischen dem sonst so kühlen Kurt und ihrem anderen Teilhaber, Schwager Heinrich Schultz – HG: »viel zu viele Worte!«. In Wismar meckert Elses Schwager, weil angeblich das Erbteil ihrer Schwester Ursula durch Vater Paul verplempert worden sei, und der Mann, den HGs Schwester Annie heiratet, kommt ständig an bei ihm mit geschäftlichen Sorgen.
    Auch Siegfried Körte taucht wieder auf, das heißt nicht er, sondern die »verehrungswürdige Mutter«. Frau Körte erscheint in Halberstadt, »eine völlig gebrochene Frau«. Irgend etwas Unangenehmes muß Körte wieder angestellt haben, HG und Else beraten mit ihr, was zu tun sei – »es ist so jammervoll und so schwierig zu helfen«. HG schreibt mehrere Briefe Siegfrieds wegen, wohl um ihn ins Ausland zu verfrachten. Zehn Tage später kommt das erlösende Telegramm aus Amsterdam: »Siegfried glücklich abgereist«. Überall muß HG ausgleichen und Lösungen aufzeigen, und ich finde zweimal den Stoßseufzer im Tagebuch: »Was geht mich das eigentlich an?!«
    Die Schwiegereltern gehen ihn etwas an, weil er sie liebt, und so fährt er im Juli 1926 nach Wismar, um Ravelin Horn endlich zu verkaufen. Er sucht ihnen eine neue Wohnung und organisiert den Umzug, und als Paul Podeus im November stirbt, sorgt er für eine würdige Beerdigung und tröstet die völlig aufgelöste Else. Bis ins nächste Frühjahr hinein kümmert sich HG abends zu Hause um Pauls Unterlagen und Dagmars Finanzen. Schließlich erscheint es sinnvoll, daß Dagmar Podeus nach Halberstadt zieht. Tatsächlich passiert das erst 1932.
    Kein Wunder, daß HG immer müde ist. Seit ich seine Tagebücher lese, finde ich diese Feststellung fast täglich in Variationen »müde«, »sehr müde«, »hundemüde«, »utterly tired!«, »völlig übermüdet«. Trotzdem reicht ihm nicht, was er schafft: »Ich habe stark den Wunsch, mehr arbeiten, mehr leisten, mehr wissen zu können.« Das kennen wir alle. Man strampelt und ackert, ist abends völlig kaputt, und was hat man tatsächlich gemacht? Ganz selten etwas, um nach eines langen Tages Reise in die Nacht ins Tagebuch schreiben zu können: »Sehr befriedigt!« Nur einen solchen Eintrag habe ich gefunden: HG hat sich mit aller Kraft in die Wahl zur Halberstädter Stadtverordneten-Versammlung reingehängt, und das Ergebnis ist »23 Bürgerliche, 14 Sozis, 2 Kommunisten, 1 Zentrum«, die fast vollständige Umkehr seit der letzten Wahl. Rot unterstrichen steht dann da am Rand: »Sehr befriedigt!«
    Die Regimentszeitung befriedigt ihn auch. Sie heißt »Prinz Albrecht Bund – Bundesblatt der Vereine des Dragoner-Rgts. Prinz Albrecht v. Preußen (Litth.) Nr. 1«. Verantwortlich ist der Kommandeur Oberst a. D. Osterroth, schreiben und redigieren muß HG – muß er? Er braucht das Blatt für sein Wir-Gefühl ähnlich wie die zahlreichen Offiziersessen in Berlin, obwohl oder vielleicht weil die jedesmal in einer fürchterlichen Sauferei enden. Diese Zeitung erscheint viermal im Jahr, ein unsägliches Pamphlet voll mit

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