Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)
Versprechen in Blau-Weiß-Grau, aber die Wände und Decken und Böden und Ecken des Klosters bestachen durch Bescheidenheit und Ehrlichkeit, etwa die Ornamente in der Bibliothek, Alfonsa konnte sie anfassen, sie berühren, kalt drückten sie sich gegen ihre Haut und bewiesen ihr, dass sie da waren, ein verlässliches Stück Welt.
Zehn Monate nachdem Alfonsa ihr Kind verloren hatte, konnte sie noch immer niemand dazu bewegen, ins Freie zu treten. Die wachsende Sorge und Hilflosigkeit unter den Ordensschwestern führte zu der Entscheidung, Alfonsa nach Sankt Helena zu bringen. Das Alpenkloster war seit dem Krieg bekannt für seinen Erfolg in der Behandlung und Heilung von allen möglichen Krankheiten.
Alfonsa drückte ihre Enttäuschung darüber aus, dass man sie fortschickte, indem sie nicht einmal »Schwester« sagte. Auf der Autofahrt nach Sankt Helena versteckte sie sich unter einer Wolldecke auf dem Rücksitz, nahm eine Schlaftablette nach der anderen und ignorierte jedes Angebot der Ordensschwestern, sich bei den Raststätten die Beine zu vertreten oder eine Toilette aufzusuchen.
Zwei Tage nach ihrer Ankunft in Sankt Helena erschien Alfonsa in meinem Zimmer. Ich drehte meinen Rollstuhl
vom Fenster weg und musterte sie: ein zwanzigjähriger Rotschopf mit ausdrucksloser Miene, der wortlos zu meinem Bett schritt.
»Wir wurden uns noch nicht vorgestellt«, sagte ich freundlich und streckte meine Hand aus. »Ludwig Wickenhäuser.«
Sie ignorierte meine Hand und sagte: »Schwester Alfonsa«, während sie schnell und kraftvoll mein Bett frisch bezog.
Ich unternahm noch einen Versuch: »Alfonsa bedeutet ›Bereit zum Kampf‹, nicht?«
Sie hielt einen Moment inne, klopfte dann umso heftiger die Kopfkissen aus.
»Wie gefällt dir Helena bis jetzt?«
»Ein Traum.«
»Du wirst dich bestimmt bald einleben. Woher kommst du?«
»Von draußen.«
»Wolltest du schon immer Ordensschwester werden?«
»Ja. Du auch?«
»Hast dir anscheinend vorgenommen, keine Freundschaften zu schließen, hm?«
»Jedenfalls nicht mit einem Krüppel.«
Ich rollte zu ihr und stellte mich ihr in den Weg. »Ich bin keine deiner Schwestern. Reiß dich zusammen und mach es uns nicht unnötig schwer. Ich beabsichtige, noch ein paar Jahre zu leben – also sollten wir versuchen, miteinander auszukommen. Denn soweit ich weiß, Schwester Alfonsa, könntest du dieses Gebäude nicht einmal verlassen, wenn du wolltest.«
Sie drückte die Schmutzwäsche an ihre Brust, umrundete den Rollstuhl und schlug die Tür hinter sich zu.
Unsere nächsten Treffen verliefen wortlos. Alfonsa dachte, ihr sei nichts anzumerken, aber Frauen wie ihr war ich schon früher begegnet. Sie würdigten die meisten Menschen, vor allem Männer, die ihnen gefielen, und Frauen, mit denen sie sich verglichen, keines Blickes und wandten sich von ihnen ab, womit sie umso deutlicher machten, wie sehr sie sich wünschten, angesprochen und umarmt zu werden. Nach so vielen ruhigen Jahren reizte es mich herauszufinden, ob es mir gelingen würde, diese Frau mit den schmalen Lippen zum Lächeln zu bringen.
Eines Abends bat ich Alfonsa nach Sonnenuntergang, mich in den Obstgarten zu begleiten, Äpfel pflücken.
»Es ist dunkel«, sagte sie.
»Ich weiß«, sagte ich, rollte nach draußen und winkte ihr, mir zu folgen.
Sie blieb am Eingang stehen und sah mir nach.
»Komm«, rief ich.
Meine Augen waren schon damals nicht mehr die besten, aber wenn mich nicht alles täuschte, dann zögerte sie kurz, bevor sie sich abwandte.
Von da an lud ich sie jeden Abend ein, mit mir in den Obstgarten zu kommen. Und jeden Abend schlug sie das Angebot aus – sah mir aber immer etwas länger nach.
Fast zwei Monate dauerte es, bis sie, als die Mondsichel einmal besonders schlank war, einen ersten Schritt auf den Eingang zumachte.
»Noch einen«, ermutigte ich sie. »Nur einen kleinen.«
So arbeiteten wir uns voran, Nacht für Nacht. Die anderen Ordensschwestern vertrauten mir und ließen mir freie Hand. In siebenunddreißig Jahren hatte ich nicht einmal versucht,
einer von ihnen näherzukommen, und sie wussten nicht, wer ich früher gewesen war. Nach so langer Zeit wusste ich das selbst kaum mehr.
Es war längst Winter und kein Apfel mehr zu pflücken, als Alfonsa mich endlich in meinem Rollstuhl im Freien erreichte.
»Gratulation«, sagte ich.
»Woher wusstest du, dass ich es schaffe?«
»Das wusste ich nicht«, sagte ich. »Aber ich dachte mir, wenn die Luft
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