Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)
stolpern viel!
Das Fliegen gab mir neue Kräfte
Und lehrt’ mich schönere Geschäfte.«
Fred lächelte. »Du kannst reden wie wenn man singt.«
»Das ist von Nietzsche.«
»Ist der ein Freund von dir?«
»Manchmal.«
Albert dachte daran, als ihm Alfonsa zum ersten Mal aus
Jenseits von Gut und Böse
vorgelesen hatte. Es war der Tag gewesen, an dem ein Dartpfeil seine Wange durchbohrt hatte. Albert hatte auf der Krankenstation von Sankt Helena gelegen, die linke Gesichtshälfte verbunden, Jodgeschmack im Mund. Selbst ein Blinzeln oder eine leichte Bewegung seiner Lippen hatten stechende Schmerzen in seinem Kopf verursacht. Als Alfonsa sein Zimmer betreten hatte, war er davon ausgegangen, dass sie ihn mit Schuhebinden bestrafen würde. Aber sie hatte den Vorfall mit keinem Wort erwähnt und stattdessen neben seinem Bett Platz genommen, Nietzsches Buch aufgeschlagen und begonnen zu lesen. Jedes dritte Wort war Alberts sechsjährigem Verstand entglitten, aber Alfonsas emotionsloser Ton hatte ihn beruhigt und ihm das Gefühl gegeben, dass seine Verletzung nur eine unbedeutende Wunde war, die rasch heilen würde.
Die Erinnerung daran löste jetzt, als er neben Fred vor einem Grab stand, so klein dieses auch sein mochte, ein solches Bedürfnis nach Geborgenheit in ihm aus, dass er sofort ins Haus ging und Alfonsa anrief. Erst als sie sich mit einem kühlen »Ja?«meldete, wurde ihm bewusst, dass er sie nicht mehr gesprochen hatte, seitdem er nach Königsdorf gereist war.
»Ich bin’s.«
»Albert.« Irrte er sich oder lag da eine Spur von Freude in ihrer Stimme?
Sie schwiegen.
»Ich wollte Sie anrufen«, sagte er endlich.
»Davon gehe ich aus.«
Irgendwie hatte er sich das anders vorgestellt. Wie sollte er einer Person, die nie gut darin gewesen war, jemanden zu umarmen, mitteilen, dass er sich wünschte, in den Arm genommen zu werden, noch dazu am Telefon?
»Wir haben heute ein Rotkehlchen beerdigt«, sagte Albert.
»Also ein aufregender Tag«, sagte Alfonsa. »Und sonst?«
»Sonst hat Fred nur noch neunzigtausend Minuten.«
»Du weißt, was ich darüber denke.« Dass Fred und er besser in Sankt Helena aufgehoben wären. Bevor Albert ausgezogen war, hatte sie jede Gelegenheit ergriffen, ihm das deutlich zu machen. Was ihn nur in dem Glauben bestärkt hatte, Fred und er müssten die ihnen verbleibende Zeit in Königsdorf verbringen. In Sankt Helena würde er Fred mit Ordensschwestern und Waisenkindern teilen müssen, in Sankt Helena könnte Fred nicht seinem gewohnten Tagesablauf nachgehen, in Sankt Helena hätte Albert niemals von dem Gold erfahren, und von einer Kiste in der Kanalisation, und von Britta Grolmann.
»Du rufst doch an, weil es nicht funktioniert«, sagte sie. »Überleg es dir noch einmal.«
»Das hab ich«, sagte er. »Wir kommen klar.«
Im selben Moment trat Fred ins Wohnzimmer und sah ihn verwundert an. Albert telefonierte so gut wie nie (seine Gespräche mit Britta Grolmann waren eine Ausnahme gewesen, die er zudem vor Fred geheim gehalten hatte), und sie wurden nur selten angerufen, meistens von Leuten in Callcentern, mit denen Fred so lange plauderte, bis sie freiwillig das Gespräch abbrachen. Fred fragte ihn, mit wem er rede, in einer Lautstärke,dass Albert nicht verstand, was Alfonsa als Nächstes zu ihm sagte, und so wären ihm beinahe die Worte entgangen, die er so bald nicht mehr vergessen sollte, wenn Alfonsa sich nicht geräuspert und wiederholt hätte: »Ich könnte dir zeigen, wer deine Mutter ist.«
TEIL IV
Drei Lieben, 1924 – 1930
Ein Paar Stiefel
In Segendorf waren von 1525 bis 1924 siebzehn Häuser einem Feuer zum Opfer gefallen. Meistens aber nicht dem Opferfeuer. Das Haus meiner Eltern wurde zu Nummer achtzehn. Alle Bewohner bildeten eine Kette vom Moorbach bis zum Dorfkern und reichten schnellstmöglich Wassereimer weiter, allerdings konzentrierte man die vereinten Kräfte vor allem auf die benachbarten Höfe, um zu verhindern, dass sich das Feuer ausbreitete.
Man einigte sich darauf, dass Funkenflug die Brandursache war.
Niemand hatte gesehen, wie ich, bevor ich geflohen war, Anni die Fackel entrissen und ins brennende Haus geworfen und ihr Gesicht in meine Hände genommen und ihr in die Augen gesehen und »Ich liebe dich« gesagt hatte.
Auf dem Wolfshügel rollte ich mich auf der Segendorf abgewandten Seite der Eiche zusammen und weinte, ich winkelte die Beine an, presste die Knie gegen meine Brust, verschnürte sie mit den
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