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Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)

Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)

Titel: Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Kloeble
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was angeblich an den schwefeligen Sumpfgasen auf dem Segendorfer Friedhof lag.
    »Komm«, sagte er zu mir.
    »Warten Sie! Meine Schwester muss auch mit.«
    »Wie alt ist sie? Sieben?«
    »Acht.«
    Er schüttelte den Kopf. »Entweder du kommst jetzt oder ihr bleibt beide hier.«
    Ich dachte an Anni und daran, dass ich sie nicht allein lassen durfte, sie war naiv und viel zu gutmütig, sie brauchte ihren Bruder. Aber ich konnte nicht bleiben, ich konnte nicht.
    »Haben Sie ein Messer?«, fragte ich.
    Wickenhäuser zögerte, griff in seine Brusttasche und gab mir ein Taschenmesser mit Sandelholzgriff. Ich bedankte mich, beugte mich über eine dünne, sich auffällig schlängelnde Wurzel der Eiche und ritzte drei Worte, die besten drei Worte, die mir einfielen, in die Baumrinde. So tief ich konnte. Vielleicht würde Anni sie eines Tages entdecken. Und vielleicht würde sie dann an ihren Bruder denken.
    »Los, Junge, die Kutsche wartet!«
    Wickenhäuser packte mich am Kragen und zog mich hinter sich her. Die »Kutsche« war ein zweirädriger, klappriger Karren, der von einem Muli namens Hoss gezogen wurde und kaum ausreichend Platz für einen Fahrer und einen Sarg bot.
    »Wohin fahren wir?«, fragte ich den Bestatter.
    »Zu deinem neuen Zuhause.«
    »Und wo ist das?«
    Darauf bekam ich keine Antwort.
    Die Fahrt über blieb mir nichts anderes übrig, als auf dem Sarg zu sitzen.
    Sechs Tage und sieben Nächte lang reiste ich mit Wickenhäuser auf schlecht befestigten Straßen durch verlassenes Hochmoor. Selten wechselten wir ein Wort. Meine Sehnsucht nach Anni machte mich wortkarg. Manchmal schmetterte Wickenhäuser ohne Vorwarnung und aus voller Kehle ein selbstverfasstes Gedicht und scheuchte mit seiner schrillen Stimme ganze Vogelschwärme auf.
     
    Ist es das,
    was am Herzen nagt,
    was man nicht so leicht wagt,
    aus der Gefühle Ozean ragt,
    dir eine heisere Stimme sagt, was du misst?
     
    So fass dir ein Herz,
    töte den Schmerz,
    erstich ihn mit tausend Nadeln,
    auch wenn solch Tat dich in die Enge drängt,
    worauf du dein Haupte senkst,
    fahre fort mit dem grausamen Akt,
    deine Seele fühlt sich dabei nackt,
    vollführe ihn und der Sieg ist dein,
    selbst wenn du damit verbreitest viel Pein.
    Dann endlich hast du es beendet,
    wie Tragik weiterhin das Schicksal wendet.
     
     
    Mit der Zeit gewöhnte ich mich an die unbequeme Art der Fortbewegung und döste während der Fahrt, solange ich keine Strophen leise wiederholte, in einem Dämmerzustand vor mich hin. Je weiter ich mich von Segendorf entfernte, desto besser fühlte ich mich. Ich vermisste Anni sehr, aber gleichzeitig wuchs mit jedem neuen Morgen diese mir unbekannte Anspannung in meiner Brust. Nun würde ich die Welt entdecken. Fremde Orte erkunden. Niemals wieder Mohn essen.
     
    Bei Anbruch der siebten Nacht hielten wir an, und Wickenhäuser zog mich von dem Sarg. Ich schüttelte mir die Glieder. Wickenhäuser deutete auf eine Blockhütte auf einer Lichtung mitten im Wald: ineinander verkeilte, aufgeschichtete Baumstämme und ein mit Schindeln gedecktes Dach, zwischen denen graugelber Blätterpilz blühte.
    »Was ist das?«, fragte ich.
    »Dein neues Zuhause«, sagte Wickenhäuser.
    »Hier wohnen Sie?«
    »Himmelherrgott, nein!« Er schlug mir auf die Schulter. »Hier wohnt meine Mutter.«

Die erste Liebe
     
    Die alte Frau bündelte das Licht. Ihr weißes Kleid sog jedes Körnchen Helligkeit in sich auf. Auch nach zwei Tagen kniff ich noch immer instinktiv die Augen zusammen, wenn ich sie ansah. Der begrenzte Platz in der Holzhütte bot keine Rückzugsmöglichkeit. Ein beschlagenes Fenster in der hinteren Wand war die einzige Verbindung zur Außenwelt, davor ragte ein Sessel auf, in dem ich die ersten zwei Nächte verbrachte, rechts daneben Küchengerät und der Kamin, links eine Tür, die ins Schlafzimmer führte, das ich nicht betreten durfte, schräg gegenüber eine weitere, die den Gestank in der Latrine einsperrte, beinahe verborgen hinter einem wuchtigen Kleiderschrank, von dem derselbe uralte Geruch ausging, der sich auch in dem weißen Kleid von Wickenhäusers Mutter festgesetzt hatte. Es roch nach Fett, getrockneten Blumen und seltsam bitter.
    Seitdem Wickenhäuser mich seiner Mutter vorgestellt und noch am selben Abend die Reise in Richtung einer Stadt namens Schweretsried fortgesetzt hatte, in der er als Bestatter arbeitete, war ich nicht mehr nach draußen gegangen, weil ich befürchtet hatte, die alte Frau würde die Tür hinter mir schließen

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