Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)
noch bevor er mit vierzehn, also frühestmöglich und sehr zu Alfonsas Missfallen,aus der Kirche ausgetreten war. Es gab keinen Sinn, es gab keinen Grund, es gab bloß ein Früher-oder-Später. Das wirklich Widerliche an der Frage
Warum
war, sie artikulierte einen Vorwurf derjenigen, die noch nicht das Zeitliche gesegnet hatten, an die Verstorbenen.
Wie kannst du einfach so vor mir sterben? Wie kannst du mich allein lassen? Hast du eine Ahnung, wie schlecht es mir geht? Haust einfach ab und lässt mich zurück! Was soll ich denn jetzt tun?
Trauer, dachte Albert, ist nicht mehr als ein Wort. Menschen haben es erfunden, um es sich einfacher zu machen. Aber was man tatsächlich spürt, ist kein Bedauern und auch kein Mitleid mit dem Toten, was so scheiß wehtut, wenn jemand für immer verschwindet, ist nichts anderes als die Erkenntnis, dass man vom ersten Tag an auf dieser Welt allein war und bis zum Ende allein bleiben wird.
»Das ist eine gute Stelle!«, rief Fred, der auf einem freien Platz in der Grabsteinreihe vor Albert lag, mit Armen und Beinen ruderte und einen Grasengel machte. »Du musst sie ausprobieren!«
Albert ging zu Fred und legte sich neben ihn.
»Man kann sehr viel sehen von hier«, sagte Fred, »man kann den Glockenturm von der Kirche sehen. Da weiß ich immer, wie spät es ist. Und man kann das Moor sehen. Und man kann den ganzen Himmel sehen.«
»Und du kannst mich sehen, wenn ich dich besuche.«
»Das ist ambrosisch! Willst du mich oft besuchen?«
»Jeden Tag. Vielleicht bringe ich sogar mal jemanden mit.«
»Klondi?«
»Zum Beispiel.«
»Gertrude?«
»Ich bezweifle, dass Pferde auf dem Friedhof erlaubt sind.«
»Mama?«
Albert befingerte seinen Schminkklappspiegel, er suchte nach den richtigen Worten. Da klatschte ihm Fred mit einer seiner Pranken auf die Schulter und deutete auf die Mauer am Rand des Friedhofs, in der die Urnen aufbewahrt wurden: »Das war witzig! Du kannst Mama gar nicht mitbringen. Weil, sie ist ja auch hier.«
Albert lächelte und tat amüsiert.
Für ein paar Minuten lagen sie still nebeneinander. Fred schloss die Augen und fuhr mit den Fingern durchs Gras. Albert wurde es bald zu heiß, er setzte sich auf, roch an Fred, stupste ihn an und sah ihm in die Augen.
»Ich habe mich wirklich geduscht!«
»Erzähl das mal Gertrude.«
»Warum?«
»Das ist eine Redewendung.«
»
Erzähl das mal Gertrude
ist eine Redewendung?«
»Lenk nicht ab. Hast du dich geduscht?«
Fred blinzelte.
Während Fred in der Badewanne einweichte und mit Kerzenwachs Bleigießen spielte, stand Albert auf der Treppe vor einem gerahmten Foto, auf dem Anni die Einfahrt zum Haus mit einem Gartenschlauch abspritzte. Sie trug ein Kleid – auf allen Fotos trug sie Kleider –, und ihr Gesichtsausdruck war nüchtern, aufmerksam.
Albert sagte zu dem Foto: »Ich habe mit Britta Grolmann gesprochen.«
Aus dem Bad hörte er ein Platschen; er sah hoch zu der angelehnten Badezimmertür.
»Was wolltest du verbergen?«
Albert drehte sich weg, ging drei Stufen treppab und blieb stehen. Aus dem Augenwinkel betrachtete er ein Foto, auf dem Anni mit einer Schubkarre Laub transportierte.
»Hat das Gold was damit zu tun? Klondi sagt, die Kassette, die Lilie und noch ein paar Sachen sind von ihr. Nur nicht das Gold.«
Eine Stufe weiter unten nähte Anni eine Latzhose. Sie sah nicht einmal in die Kamera.
»Ach, Scheiße.«
»Das sagt man nicht.«
Fred stand am oberen Treppenabsatz, gehüllt in einen Bademantel, der ihm kaum über die Knie reichte.
»Hast du was Schönes gegossen?«
Fred hielt ein Klümpchen Kerzenwachs hoch. »Ein echter Totenkopf!«
Albert schaute ihn sich genauer an. »Für mich sieht das eher aus wie ein Stück Käse.«
»Für mich sieht das eher aus wie ein echter Totenkopf«, meinte Fred ernst. In seinem Bart hing noch Schaum.
»Lass uns das wegwaschen«, sagte Albert.
Fred zog an seinem Ärmel und sprach leise: »Das ist schon okay, dass du mit Mama redest. Mama sagt, man darf sie nie vergessen.«
Bevor Albert erwidern konnte: »Gibt nicht gerade viel, das ich vergessen könnte«, fügte Fred achselzuckend hinzu: »Wir sind alle Liebste Besitze.«
»Sind wir das?«
Fred seufzte, als würde Albert mal wieder nichts begreifen. »Mama sagt, jeder ist ein Liebster Besitz von wem.«
Dann ging er zurück ins Bad, um sich den Bart zu föhnen.
Albert dachte, vielleicht konnte man jemanden oder etwasnur lieben, wenn man ihn, sie oder es – zumindest teilweise
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