Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)
und nicht mehr öffnen, und dann müsste ich allein im Wald überleben. Wickenhäusers Mutter entging nie, wenn ich mir am Türriegel zu schaffen machte, und dann schrie sie hysterisch auf. Das klang anders als alles, was ich bisher gehört hatte – ihre Zunge war kaum größer als ein Gaumenzäpfchen. Ein Geburtsfehler. Morgens wanderte sie vom Schlafzimmer zum Sessel, verscheuchte mich fauchend, setzte sich und schloss die Augen. Irgendwann nachmittags stöhnte sie
»U-A!« (Hunger.)
und ich kochte ihr eine Linsensuppe, wie der Bestatter es mir gezeigt hatte. Zwei prall gefüllte Säcke Linsen neben dem Kamin garantierten, dass wir ausreichend versorgt waren. Beim Essen achtete die alte Frau penibel darauf, ihr Kleid nicht zu bekleckern. Auch schmatzte sie nicht. Ich war noch nie jemandem begegnet, der nicht schmatzte. Spätestens nach dem zweiten Teller war sie satt und krähte
»Ä-IH!« (Fertig.)
worauf ich ihr den Teller abnahm. Dann rief sie
»H-Ä!« (Kissen.)
und ich stützte ihr mit einem Daunenkissen den Kopf. Bald döste sie vor sich hin. Abends schlug sie abrupt die Augen auf, klopfte das Kissen aus, marschierte in die Latrine. Schließlich zog sie sich ins Schlafzimmer zurück.
Wickenhäuser hatte mich gebeten, »ein Weilchen« für seine Mutter zu sorgen. Nach ein paar Tagen fragte ich mich, wie lange so ein Weilchen dauern konnte – eine Woche? Einen Monat? Zwei Monate? Selbst wenn ich mitten in der Nacht barfuß zur Tür schlich und den Riegel so langsam zur Seite schob, dass ich die Bewegung kaum sehen konnte, bemerkte es die alte Frau und schrie panisch auf. Vier Tage lang versuchte ich, die Hütte heimlich zu verlassen, ohne dass sie es hörte. Während sie aß, während sie schlief, während sie ihre Notdurft verrichtete, ich versuchte es vor dem Essen, nach dem Essen, früh am Morgen, spät am Abend und zu Mittag, ich versuchte es durchs Fenster, versuchte es, während ich eines der neu erlernten Gedichte buchstabierte, und ich versuchte es durch einen zu schmalen Spalt in der Außenwand der Latrine.
Ohne Erfolg.
Entweder stöhnte die alte Frau
»U-A!«
Oder sie krähte
»Ä-IH!«
Oder sie rief
»H-Ä!«
Am fünften Tag, als sie mich wieder weckte, indem sie mich aus dem warmen Schoß des Sessels stieß, schritt ich wütend zur Tür, riss sie, trotz des Gebrülls, weit auf und trat nach draußen. Kaum hatte ich den zweiten Fuß nachgezogen, wurde es still. Ich lief zurück. Nun hatte ihr das Lärmen also den Garaus gemacht. Aber sie lag nicht röchelnd auf dem Boden. Und fasste sich auch nicht an die Brust. Sie stand aufrecht neben dem Sessel, kraulte die Kopflehne wie den Nacken eines Hundes und lächelte verträumt.
»U-E?«, fragte sie.
Ich räusperte mich verwirrt.
Da stürmte sie auf mich zu und hakte sich bei mir ein. »U-E!«
Was sollte ich tun? Mir gefiel ihr Lächeln. Gemeinsam traten wir ins Tageslicht. Die Sonne blendete mich, ich blinzelte.
»U-E!«, drängte die alte Frau und leckte sich die Lippen. Ihr weißes Kleid funkelte wie frisch gefallener Schnee. »U-E!«
Sie wies mir den Weg. Der Spaziergang führte uns einmal um die Hütte herum, dann schnaufte die alte Frau so besorgniserregend, dass ich ihr einen schmutzig-grauen Stuhl auf der Veranda zurechtrückte. Nur wollte sie meinen Arm nicht loslassen. Während sie saß und nach Luft schnappte, kniete ich neben ihr. Bald kippte ihr Kopf zur Seite, und sie begann,
leise zu schnarchen. Sobald ich es wagte, mich zu rühren, zog sie die Schlinge ihres Arms fester und schmiegte ihren Kopf an meine Schulter. So nah bei ihr war der uralte Geruch besonders kräftig. Selbst im Schlaf wich das Lächeln nicht aus ihrem Gesicht. Etwas Merkwürdiges geschah mit meinen Lippen und Augen, auf meinen Wangen. Einen Spiegel, ein Fenster, nur eine Pfütze hätte ich mir jetzt gewünscht, aber auch ohne ihn wusste ich, was das war.
Ich lächelte.
Am nächsten Tag brachen wir noch vor dem Mittagessen zu einem Spaziergang auf. Die alte Frau raffte den Saum ihres weißen Kleides, damit der Rock nicht auf dem Boden schleifte. Diesmal umrundeten wir die Hütte zweimal: Veranda mit Stuhl, eine stumpfe Axt, Holzscheite, das angelaufene Fenster, verrostete Blattsägen und Nägel, ein großer Stein, flach und eben wie ein Tisch, daneben eine Menge Gänseblümchen, eine wurmstichige Truhe mit Vorhängeschloss, Spinnweben, ein Metalleimer gefüllt mit Schiefer, eine an die Wand genagelte, in Fetzen hängende Schlangenhaut,
Weitere Kostenlose Bücher