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Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)

Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)

Titel: Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Kloeble
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Veranda mit Stuhl   …
    Ab und zu sagte die alte Frau fröhlich
    »U-E!«
    und zerrte an meinem Arm. Später aß sie drei Teller Linsensuppe.
    »Ä-IH!«
    »H-Ä!«
    Binnen einer Woche steigerten wir unser Pensum auf sechs Umrundungen der Hütte. Manchmal auch gegen den Uhrzeigersinn. Die alte Frau atmete nun flacher, ich stützte sie nur noch selten. Dreimal täglich löffelte sie Linsensuppe und dreimal täglich verschwand sie in der Latrine. Nachts ließ sie
die Tür zum Schlafzimmer einen Spalt breit offen. Beim Essen murmelte sie
    »u-e«
    Beim Spazieren keuchte sie
    »U-E!«
    Nach dem Aufstehen und vor dem Zubettgehen grüßte sie mich mit
    »U-E.«
     
    Von den Ausflügen bekam seltsamerweise nur ich Sonnenbrand. Die Haut in meinem Gesicht schälte sich. Behutsam pulte die alte Frau Hautfetzen von meiner Stirn; ich ließ es mir gefallen.
    »Wieso leben Sie hier?«, fragte ich sie.
    Die alte Frau zuckte mit den Achseln.
    »Ich heiße Julius. Und Sie?«
    Sie hielt mir einen besonders langen Streifen Haut vor die Nase.
    »E.«
    »Was?«
    »E.«
    »Können Sie schreiben?«
    Die alte Frau nahm ihre Hände aus meinem Gesicht.
    »Sie können schreiben? Ja?«
    Die alte Frau nickte.
    »Ich kann lesen«, sagte ich.
    Sie klatschte in die Hände.
    »Haben Sie Kreide?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Kohle, wir können Kohle benutzen.«
    Wieder schüttelte sie den Kopf, und als ich aufstehen wollte,
drückte sie mich zurück in den Sessel, nahm ein Blech aus der Küche, schaufelte einen Teller ungekochter Linsen darauf und legte es auf meinen Schoß.
    »Hunger?«
    Sie seufzte, beugte sich vor und zeichnete vier Buchstaben in die Linsen.
    »Else? Sie heißen Else?«
    »E!« Sie nickte, verwischte ihren Namen und schrieb:
    »Du.«
    »Ich heiße Julius.«
    Sie schüttelte den Kopf, klopfte sich gegen die Brust.
    »
Du
heißt Else?«
    »U-E!« rief sie.
    »Was heißt das? Was ist das? Schreib das, schreib das auf!«
    Doch Else presste die Lippen aufeinander, verschränkte die Arme hinter dem Rücken und trat von einem Fuß auf den anderen wie ein ertapptes Kind. Was ich in den Linsen las: Else lebte seit über sechzig Jahren in dieser Holzhütte, hier war sie geboren, getraut, geschwängert worden, und eines Tages würde sie, wie ihre Vorfahren, im Wald bestattet werden. Ihre Eltern hatten ihren Ehemann für sie ausgewählt, den sie in fünfundvierzig Jahren zuerst kennen- und dann lieben gelernt hatte. Als sie gegen Ende des Ersten Weltkriegs (von dem ich zum damaligen Zeitpunkt noch nichts gehört hatte) erfahren hatte, dass ihr Ehemann bei Verdun in Frankreich gefallen war, hatte sie den Kleiderschrank aufgerissen und den kostbarsten Stoff übergestreift, den sie besaß: ihr Brautkleid. Bedeckt von Stickereien in weißestem Weiß hatte sie die Angst, so allein zu sein, wie sie es nun war, klein gehalten. Das Weiß hüllte sie seitdem in tröstende Erinnerungen   – an die verzweifelte Suche ihres Ehemannes nach den versteckten
Knöpfen ihres Kleides in der Hochzeitsnacht, an die Serviette, mit der ihre Mutter ihr oft den Mund abgeputzt hatte, an das lichte Haar ihres Großvaters, an den ersten Augenaufschlag ihres Sohnes, an einen Kranz aus Gänseblümchen, den sie bei ihrer Trauung auf dem Kopf getragen hatte.
    Inzwischen blendete mich das Kleid nicht mehr. Für mich strahlte es. Genüsslich vertilgte ich jeden Löffel Linsen, am liebsten solche, die Else zum Schreiben benutzt hatte. Nachts lugte ich durch den Türspalt ins Schlafzimmer und bemühte mich vergeblich, mehr zu erkennen, als ich roch: Fett, getrocknete Blumen und Bitterkeit. Jeden Tag pflückte ich ein Gänseblümchen und schmückte damit Elses Tellerrand. In den Samt des Kissenbezugs schrieb ich »Ich liebe dich« und wischte die Buchstaben weg, bevor Else sie lesen konnte. Mithilfe des Linsenblechs unterhielt ich mich mit ihr und beobachtete genau, wie sie ihre Finger krümmte, ihre Hände ballte, ihren Arm schwang.
     
    Das blieb nicht unbemerkt. Eines Abends war der Türspalt zum Schlafzimmer breiter als sonst. Ich zögerte keinen Augenblick, atmete nur einmal tief durch und ging zu ihr. Ich legte mich neben sie. Vielleicht, dachte ich, war ich in jener vorletzten Nacht in Segendorf doch tief genug in mich selbst gekrochen und nun an diesen wundersamen Ort gelangt? Sie berührte mich nur einmal, streichelte mir, bevor sie sich schlafen legte, mit einem mütterlichen »U-E« das Gesicht und schenkte mir einen warmen Moment, in dem ich mich so zu Hause

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