Meister Antifer's wunderbare Abenteuer
Perioden bedrückten Zuhörerschaft in diesem Tone predigte. Nach Anhörung desselben hätten seine Gläubigen sich eigentlich beeilen müssen, ihre Geldschränke auszuleeren und alle Werthsachen in den Golf des Forth zu werfen, der zwei Meilen von hier das Nordufer von Mid-Lothian benetzte, jener berühmten Grafschaft, deren Hauptstadt zu sein, Edinburg, das Athen des Nordens, sich brüstete.
Bereits eine Stunde lang predigte Reverend Tyrcomel zur großen Erbauung der frommen Heerde des Kirchspiels über dieses Thema. Er schien ebenso wenig müde zu werden, zu sprechen, wie die Kirchenbesucher, ihm zuzuhören. Warum sollte eine Predigt denn überhaupt ein Ende finden? Die jetzige endete, wenigstens in dieser Minute, wirklich noch nicht, sondern der Vortragende fuhr darin fort wie folgt:
»Geliebte Brüder und Schwestern, der Evangelist hat gesagt:
Beati pauperes spiritu,
ein tiefsinniger Ausspruch, dessen Bedeutung Uebelwollende oder Unkundige mehrfach zu verdrehen gesucht haben. Nein, es handelt sich dabei nicht um die, die »arm an Geist«, die eigentliche Schwachköpfe sind, sondern um die, die sich »arm im Geiste« machen und die elenden Reichthümer, die Quelle so vieler Uebel in der neuzeitlichen Gesellschaft, im Herzen verachten. Das Evangelium empfiehlt uns auch, Glück und Vermögen gering zu schätzen, und wenn Ihr unglücklicher Weise mit Gütern dieser Welt überhäuft seid, wenn Ihr im Gelde erstickt, wenn das Gold Euch in breitem Strome zufließt, liebe Schwestern«…
Hier folgte ein mächtiges Gleichniß, das unter die Umhänge der andächtigen Frauen in der Kirche einen kalten Schauer jagte.
»Wenn Diamanten und Edelsteine Euch am Halse, an den Armen und den Fingern sitzen wie ein krankhafter Ausschlag, wenn Ihr zu denen gehört, die man die Glücklichen der Erde zu nennen pflegt…, ich, ich sage Euch, daß Ihr die Unglücklichen seid, und versichere Euch, daß Eure Krankheit mit den stärksten Mitteln, mit Eisen und Feuer bekämpft werden muß.«
Man empfand ein Zittern im Zuhörerkreise, als ob schon das Bistouri des Chirurgen in den vom Redner bloßgelegten Wunden wühlte.
Etwas Originelles in der Behandlung, die er den armen, vom Meteorismus des Reichthums gequälten Leuten als bevorstehend ausmalte, war es, daß er ihnen befahl, sich ihrer Schätze materiell zu entledigen – mit andern Worten, sie zu vernichten. Er sagte nicht etwa: »Vertheilt Euer Vermögen unter die Armen! Enteignet Euch Eurer Habe zum Besten derer, die nichts besitzen! Nein, was er predigte, war die thatsächliche Vernichtung dieses Goldes, dieser Diamanten, dieser Besitztitel, dieser commerciellen und industriellen Actien, das war ihr vollständiges Verschwinden, und hätte man alles ins Feuer oder ins Meer werfen sollen.
Um die Unversöhnlichkeit seiner Lehren zu begreifen, muß man wissen, welcher religiösen Secte dieser jähzornige Tyrcomel, Esquire, angehörte.
Das in etwa tausend Kirchspiele zerfallende Schottland hat zur Verwaltung und Ausübung des nationalen Cultus Kirchenversammlungen, Synoden und eine Art Obergericht. Außer dieser recht ansehnlichen Zahl giebt es, da im Vereinigten Königreiche alle Religionen Duldung erfahren, noch etwa fünfzehnhundert Gotteshäuser für Dissidenten, Katholiken, Baptisten, Episcopalen, Methodisten u.s.w. Von diesen fünfzehnhundert Kirchen dient über die Hälfte der »Freien Kirche von Schottland« –
»Free Church of Scotland«
– die sich vor zwanzig Jahren von der presbyterianischen Kirche Großbritanniens offen trennte, nur weil sie diese nicht genug von calvinistischem Geiste durchränkt, sagen wir, nicht puritanisch genug fand.
Reverend Tyrcomel predigte im Namen der fanatischten dieser Secten, die jedes Compromiß mit allen Sitten und Gebräuchen verwerfen. Er hielt sich für einen Sendboten Gottes, der ihm einen seiner Donnerkeile anvertraut hatte, um die Reichen, oder wenigstens deren Reichthümer, zu zermalmen, und wie wir sahen, ließ er es an dem Versuche nicht fehlen.
Die durch die Signale unterrichtete Schaluppe. (S. 322.)
Geistig war er eine Art Erleuchteter und gleich streng gegen sich selbst wie gegen andre. Körperlich erschien er als Fünfzigjähriger, groß, hager, mit abgezehrtem, glattem Gesicht, einer Flamme im Blicke, mit der Physiognomie eines Apostels und der Stimme eines Dominicaners. Seine Umgebung erklärte ihn für vom Hauche des Höchsten inspiriert. Doch wenn sich die Beichtkinder des Eiferers nach seinen Predigten
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