Meister der Stimmen: Roman (German Edition)
Mädchen zuckte bei der Verachtung in ihrer Stimme zusammen und ließ den Kopf hängen, so dass der dicke Wollschleier, der ihre Haare bedeckte, nach unten glitt und auch ihr Gesicht verbarg. »Ich wollte Euch nicht beleidigen, Magierin.«
»Spiritistin«, korrigierte Miranda sie sanft. Das Mädchen warf ihr einen neugierigen Blick zu, und Miranda versuchte es noch einmal: »Lass es mich erklären. Magier zaubern nicht – zumindest nicht so, wie das Buch es erklärt. Was Kant ›Zauberei‹ nennt, sind eigentlich Geister. Die Welt, in der wir leben, besteht aus Geistern: Berge, Bäume, Wasser, selbst die Steine in der Wand oder die Bank, auf der ich sitze«, sie klopfte mit den Knöcheln auf das Holz, »sie haben alle ihre eigene Seele, genau wie die Menschen. Das Wort ›Magier‹ ist nur ein vager Sammelbegriff für all jene, welche die Stimmen der Geister hören können. Wenn er ernsthaft verletzt oder im Sterben begriffen ist, kann jeder die Geister hören. Ein Magier unterscheidet sich dadurch von den anderen Menschen, dass er die Geister immer hört, selbst wenn er es gar nicht will. Aber die wahre Macht eines Magiers liegt nicht darin, dass er die Geister hört, sondern in Kontrolle. Magier können durch ihren Willen die Geister in ihrem Umfeld beeinflussen und sie, wenn der Wille des Magiers stark genug ist, auch kontrollieren. Aber natürlich muss diese Kontrolle immer verantwortungsbewusst gehandhabt werden und ist nur mit der Zustimmung des Geistes zulässig.«
Sie sah Marion an, um herauszufinden, ob sie nicht schon mehr gesagt hatte, als das Mädchen eigentlich hören wollte. Aber die Bibliothekarin lehnte sich vollkommen gefesselt vor, also fuhr die Spiritistin fort.
»Natürlich sind nicht alle Geister gleich. Es gibt große Geister, einen Berg zum Beispiel, und kleine Geister, wie einen Kieselstein. Je größer der Geist, desto größer seine Macht, und desto stärker muss der Wille eines Magiers sein, um ihn zu kontrollieren oder auch nur seine Aufmerksamkeit zu erregen. Fast jeder Magier kann einen kleinen, dummen Geist aufwecken, wie eben den Kieselstein oder die Tür, die ich vorhin angeschrien habe – aber was für einen Magier man wirklich vor sich hat, erkennt man daran, wie er die Geister behandelt, sobald sie aufgewacht sind.«
Miranda deutete auf ihre Ringe. »Ich bin eine Spiritistin. Wie alle Magier habe ich die Macht, Geister zu beherrschen und dazu zu zwingen, meinem Willen zu folgen. Aber ich tue es nicht. Der Geisterhof hält nichts davon, die Welt dazu zu zwingen, uns zu Willen zu sein. Stattdessen handeln wir Verträge aus. Jeder dieser Ringe enthält einen Geist, der freiwillig in meine Dienste getreten ist.« Sie bewegte ihre Finger. »Als Gegenleistung für ihre Arbeit und ihren Gehorsam teile ich meine Energie mit ihnen und biete ihnen einen sicheren Rückzugsort. So arbeiten Spiritisten: durch Geben und Nehmen. Meistens ist es eine gute Abmachung für beide. Geborene Magier haben oft große und mächtige Seelen, und Geister haben gerne Anteil an Macht, die größer ist als ihre eigene. Im Gegenzug bekommt der Magier einen mächtigen Verbündeten, also ist es zu beiderseitigem Vorteil. Trotzdem haben sie immer die Wahl getroffen, uns zu dienen. Niemals zwingen wir einen Geist gegen seinen Willen zu Gehorsam. Ein Magier, der das tut, ist kein Spiritist und daher niemand, mit dem man sich abgeben sollte.« Sie deutete auf den einzigen Ring an ihrer Hand, der nicht von einem Juwel geziert wurde – einen dicken goldenen Siegelring an ihrem linken Ringfinger, in den ein perfekter Kreis eingestanzt war. »Das ist das Zeichen des Geisterhofes. Seriöse Magier tragen diesen Ring voller Stolz. Er ist das sichtbare Symbol der Gelübde, die ein Spiritist ablegt: Niemals seine Macht oder die Geister, die von ihm abhängig sind, zu missbrauchen.«
»Ich verstehe«, sagte Marion und riss die Augen so weit auf, dass ihre Augenbrauen unter den Ponyfransen verschwanden. »Aber es gibt Magier, die keine Spiritisten sind, richtig? Die jeden Geist beherrschen können? Könnten diese Magier auch einen Menschen beherrschen?«
»Nein«, antwortete Miranda. »Ein Magier kann Berge versetzen, wenn sein Wille stark genug ist, aber kein Magier kann die Seele eines anderen Menschen berühren. Sie streifen, vielleicht. Einen gewissen Druck ausüben, sicherlich, wenn die andere Seele für Geister empfänglich ist. Aber all meine Macht könnte dich nicht zwingen, gegen deine Wünsche zu handeln.
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