Meister der Stimmen: Roman (German Edition)
anschloss.
Sie brauchten eine halbe Stunde und zwanzig Wachen, um die Schatzkammer zu öffnen. Meister Litell verbrachte die gesamte Zeit damit, sich zu entschuldigen.
»Die Verzögerung tut mir so schrecklich leid«, schnaufte er und trat einen Schritt zurück, als die Soldaten sich ein weiteres Mal ins Zeug legten. »Diese Tür wurde seit mindestens dreißig Jahren nicht mehr geöffnet – seit die Mitgift Eurer Mutter eingelagert wurde. Euer Vater und Bruder haben sich nie besonders für die historischen Stücke interessiert.«
Sie standen in einem langen, dunklen Saal unterhalb des heutigen Gefängnisses, der früher, vor Hunderten von Jahren, einmal das Herz des Palastes von Allaze gewesen war, von Gregorn selbst erbaut. Die rußigen Wände waren immer noch mit Mosaiken verziert, die im unruhigen Licht der Fackeln zu wogen schienen wie die Wellen eines unterirdischen Meeres. Renaud allerdings sah nichts außer der massiven Eisentür, die fast die gesamte Breite des Saales einnahm und tief in die Steinwand eingelassen war. Die riesige Tür der Schatzkammer war dreifach verriegelt, und jedes mannsgroße Schloss war mit dem Siegel von Mellinor versehen.
Schließlich gelang es den Wachen, das letzte große Schloss mit einem markerschütternden Knarzen zu öffnen. Befreit schwang die Tür langsam nach innen auf und wurde immer schneller, als ihr eigenes Gewicht sie in die Schwärze des lange versiegelten Raumes zog. Meister Litell sprang vor, nahm dem Kapitän der Wache die Fackel ab und hielt sie in den klaffenden Eingang. Das Licht wurde von glitzerndem Gold zurückgeworfen.
»Alles scheint in Ordnung zu sein.« Meister Litell gab die Fackel zurück an den Wachmann und ging zu Renaud. Im Vorübergehen nahm er einem wartenden Pagen einen Stapel Papiere ab. »Eure Majestät will sicherlich die Bestandsliste sehen. Also, der Inhalt der Schatzkammer ist chronologisch sortiert, aber Ihr werdet diese Liste brauchen …«
Seine Stimme verklang, als Renaud an ihm vorbeiging.
»Das wird nicht nötig sein, Meister Litell.« Der neue König riss nun seinerseits einer der Wachen eine Fackel aus der Hand. »Ich weiß, wonach ich suche. Wartet hier.«
Mit diesen Worten wandte er sich um und ging in die Schatzkammer. Meister Litell und die Wachen beobachteten, wie Renauds Fackel in dem Labyrinth aus uralten Truhen und staubigem Gold verschwand.
Coriano saß lange in den Schatten und überlegte, was er tun sollte. Renaud in die Schatzkammer zu folgen war einfach gewesen, genauso wie an den Wachen vorbeizuschleichen, die gaffend am Eingang standen. Aber jetzt war Renaud, nachdem er an Schränken voller Seide, Kisten voller Gold und Reihen von Gestellen mit alten Waffen vorbeigegangen war, vor etwas stehen geblieben, was wahrscheinlich der langweiligste Gegenstand in der ganzen Schatzkammer war. Und er starrte das Ding jetzt schon seit zwanzig Minuten an. Sie befanden sich in der Mitte der Schatzkammer, wo die Regalreihen sich öffneten und Platz ließen für etwas, das aussah wie ein Stützpfeiler. Der Pfeiler konnte seine Aufgabe allerdings kaum erfüllen, da er gut drei Meter zu kurz war, um die Decke zu erreichen. Seine knorrige, unebene Oberfläche glänzte dumpf im Licht von Renauds Fackel. Sonst war er vollkommen gewöhnlich und ragte unscheinbar vom ungeschmückten Holzboden auf.
So geduldig er auch war, langsam wurde Coriano langweilig. Außerdem lag hier irgendetwas in der Luft. Vielleicht hatte es etwas damit zu tun, dass sie so tief unter der Erde waren, dicht bei den großen, schlafenden Geistern, auf denen die Welt ruhte – auf jeden Fall war der Raum voller träger Energie. Es vermittelte ihm ein ungutes Gefühl, und je eher er wieder jüngere, sauberere Luft um sich spürte, desto besser ginge es ihm. Nachdem er noch eine gute Minute beobachtet hatte, wie Renaud den Pfeiler anstarrte, entschied Coriano, dass es Zeit war, sich bemerkbar zu machen.
Er trat vor und ließ seine Stiefel dabei absichtlich über den Boden schleifen. Renaud versteifte sich und wirbelte herum, wobei er die Fackel hochriss. Als er Coriano entdeckte, kniff er die Augen zusammen. »Du.«
Coriano lehnte sich an eine schwere Kiste und schenkte dem frischgebackenen König ein trockenes Lächeln. »Ich.«
Renauds Miene wurde noch bedrohlicher. »Wie bist du hier reingekommen? Warum bist du wieder da?«
»Wie ich hier reingekommen bin, ist unwichtig, weil ich es noch zwanzig Mal schaffen könnte, und das jedes Mal auf einem
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