Meister der Stimmen: Roman (German Edition)
ohne Herrscher sein. Daher hat dieser Notfallrat beschlossen, dass die Krone vom Vater auf den Sohn, vom Bruder auf den Bruder übergehen soll, wie es immer gewesen ist.«
Renaud verneigte sich feierlich, aber in seinen blauen Augen funkelte leiser Triumph. Als er vortrat, hob der Gerichtsmeister allerdings eine Hand.
»Doch«, sagte der Meister, und Renauds Augen verdunkelten sich, »Ihr müsst verstehen, in welch schwieriger Lage wir uns befinden, nachdem König Henriths Leiche nicht gefunden wurde. Sollte König Henrith durch irgendein Wunder überlebt haben, werden alle Titel sofort wieder auf ihn übergehen, wie es sein Recht ist.«
»Ich habe nichts anderes erwartet«, sagte Renaud und legte dabei sanft seine Hand auf die Schulter des alten Mannes. »Henrith war mein Bruder und auch mein König und mir als mein eigen Fleisch und Blut lieb und teuer, selbst im Exil. Trotzdem«, sein ernster Blick glitt von einem Gesicht zum anderen, »dürfen wir uns keinen falschen Hoffnungen hingeben. Miranda Lyonette ist eine mächtige Spiritistin, und der Geisterhof überlässt so etwas nicht dem Zufall. Ich habe lange darüber nachgedacht, und ich gehe davon aus, dass es ihr oberstes Ziel war, König Henrith zu töten, um mich auf den Thron zu setzen. Sie hat zweifellos geglaubt, dass ein Magier den Forderungen des Geisterhofes wohlwollender gegenüberstehen würde. Erst als ich sie nach dem grausamen Mord an meinem Bruder zurückgewiesen habe, ist ihr ihr Fehler bewusst geworden. Nun fürchte ich, dass sie vielleicht ein Phantom meines Bruders heraufbeschwört, um Euch zu täuschen und uns gegeneinander aufzuhetzen. So würde Mellinor in Chaos versinken, und die Agenten des Geisterhofes könnten sich mühelos einschleichen.«
Meister Oban wurde bleich. »Ihr meint, das ist nicht nur ein Märchen? Magier können das wirklich? Erscheinungen erzeugen, meine ich?«
Renaud nickte ernst. »Vorgetäuschte Bilder, aber doch real genug, um sie zu berühren.« Er packte mit der freien Hand die Schulter des Sicherheitsmeisters, doch der ältere Mann zog sich schaudernd zurück. »Unsere einzige Verteidigung ist Wachsamkeit«, fuhr Renaud fort und sah dabei nacheinander jedem der Meister in die Augen. »Ich habe die Außenposten benachrichtigt, aber ich bin mir sicher, dass sie versuchen wird, in der Burg zuzuschlagen, wo sie schon einmal so erfolgreich war. Wenn Ihr oder einer der Diener jemanden entdecken solltet, der dem alten König ähnelt, muss er sofort zu mir gebracht werden. Wir dürfen es der Spiritistin nicht gestatten, Angst und Unsicherheit zu säen.«
Die Beamten murmelten, manche zustimmend, manche ablehnend, aber niemand wagte es, sich wirklich zu Wort zu melden. Renaud brachte sie mit einem einzigen Blick zum Schweigen. »Die sieben Tage der Trauer beginnen bei Sonnenaufgang. Geht und bereitet alles vor.«
Der Kreis löste sich auf, aber bevor alle verschwinden konnten, fügte Renaud hinzu: »Meister Litell, einen Moment noch, bitte.«
Der ältliche Schatzmeister erstarrte und sah furchtsam über die Schulter zurück. Renaud winkte ihn herbei, und Litell drehte ohne weiteren Protest wieder um. Ein paar der jüngeren Beamten blieben stehen und hofften offensichtlich ebenfalls auf ein paar Worte mit ihrem neuen König, aber er winkte ab, und sie verließen den Thronsaal wie gescholtene Welpen. Als sich die großen goldenen Türen hinter ihnen schlossen, drehte Renaud sich um und schenkte dem Schatzmeister sein freundlichstes Lächeln.
»Ihr müsstet mich in die Schatzkammer lassen.«
»Jetzt?« Litell rieb sich nervös die Hände. »Wenn mein Herr die Bücher prüfen möchte, ich habe die Schatzbücher des Königreichs in meinem Büro. Ich kann meinen Assistenten wecken …«
»Ich vertraue Euren Büchern«, sagte Renaud. »Aber das, was ich suche, kann ich nur in der Schatzkammer finden. Ihr habt doch den Schlüssel, oder?«
»Euer Vater hat ihn mir anvertraut«, antwortete Litell und umklammerte dabei die schwere Kette an seinem Hals. »Aber ich werde jemanden rufen müssen, der uns bei den Türen hilft …«
»Tut das«, sagte Renaud. »Über diese Sache muss ich mir so bald wie möglich Gewissheit verschaffen.«
Meister Litell zuckte bei der plötzlichen Schärfe in Renauds Stimme zusammen, aber er gehorchte. Der Magier folgte ihm aus dem Thronsaal und die Stufen hinunter, die in den ältesten Teil der Burg führten. Keiner der Männer bemerkte den dunklen Schatten, der sich ihnen lautlos
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