Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
Wange an seinen Kopf. So blieb sie eine Weile stehen. Dann drehte sie sich um und sah, unbewußt majestätisch, die beiden Herren an, die immer noch unter ihrem Tisch kauerten. Wir krochen darunter hervor und gingen gehorsam hinaus in den Garten. Die Prinzessin der Vögel streckte die Hand aus und reichte mir die Große Wurzel der Macht.
»Meine Patentante möchte Euch begleiten«, sagte sie leise. »Sie hat viel gelitten, und sie betet zu den Göttern, daß es ihr im Dorf Ku-fu gelingen wird, die Aufgabe zu erfüllen, zu der sie geboren wurde. Ich habe mit dem Falken gesprochen. Von allen Lebewesen ist er wahrscheinlich allein in der Lage, Euch rechtzeitig dorthin zu bringen.«
Sie wendete sich an Li Kao.
»Ich habe eine Botschaft, die ich nicht verstehe«, sagte sie schlicht. »Der Erhabene Jadekaiser sagt, daß er Euch im Sternbild Skorpion einen Platz freihalten wird, wo Ihr als Antares, der Rote Stern, herrschen sollt, dessen Zeichen der Fuchs ist, aber nur unter der einen Bedingung, daß Ihr nicht versucht, ihm Anteile an einer Senfmine zu verkaufen.«
»Bedingungen, Bedingungen«, nörgelte Meister Li, doch ich sah, daß er sich riesig freute.
Auf eine Geste von Lotuswolke beugte sich der Falke, und Li Kao und ich kletterten folgsam auf seinen Rücken. Lotuswolke trat zu mir, und ihre Lippen streiften sanft meine Wangen.
»Ich werde dich nie vergessen«, flüsterte sie, »in aller Ewigkeit nicht.«
Die Prinzessin trat zurück. Zum letzten Mal sah ich ihr unglaubliches Lachen. Sie winkte, die großen Schwingen breiteten sich aus, hoben und senkten sich, einmal, zweimal, und dann schoß der Fürst der Vögel des Krieges hinauf in die Luft. Der Falke kreiste; seine Flügel schlugen so schnell, daß sie im Mondlicht beinahe durchsichtig wirkten, und Meister Li und Nummer Zehn der Ochse flogen über den nächtlichen Himmel von China.
Ich drehte mich um und blickte mit tränenden Augen zurück. Eine Billion Vögel hatte begonnen, aus Zweigen und Ästen eine Brücke zu bauen, und ihre Prinzessin betrat die erste Stufe. Ich würde sie nie wiedersehen. Ich würde sie nie wieder in den Armen halten. Der Falke wandte den Kopf, und seine Stimme klang überraschend leise und sanft.
»Nummer Zehn der Ochse, weshalb weinst du?« fragte der Falke. »Die Prinzessin der Vögel hat gelobt, dich bis in alle Ewigkeit nicht zu vergessen, und inzwischen solltest du wissen, daß Menschen der Unsterblichkeit näher kommen können, ohne den Verstand zu verlieren.«
Die wunderschöne Brücke der Vögel wuchs langsam den Sternen entgegen, und ein mächtiges Lied erklang über ganz China. Wir schossen schneller und schneller über den Himmel, und unten auf der Erde rannten die Bauern aus ihren Hütten, hoben die kleinen Kinder hoch, um das Wunder zu bestaunen.
»Seht ihr?« sagten die Bauern. »Deshalb darf man nie aufgeben, ganz gleichgültig, wie schlecht die Lage auch zu sein scheint. In China ist alles möglich!«
Wir flogen über einen Bergkamm und über ein kleines Tal, wo die Menschen starr vor Staunen und Ehrfurcht zum Himmel blickten, und allmählich begann ich, einen gewissen Respekt vor Pfandleiher King und Ma der Made zu empfinden, die sich die Gelegenheit nicht entgehen ließen, die Taschen der Menge zu leeren, die sie hatte lynchen wollen. Die brennenden Augen des Falken leuchteten in der Nacht wie die Strahlen eines Leuchtturms, und wir flogen weiter, glitten über einen anderen Bergkamm und in ein anderes Tal hinunter, wo sich ein alter Brunnen und eine Mauer mit einer verschlossenen Öffnung befanden.
Der Falke hatte recht. Weshalb sollte ich weinen? Leuchtender Stern hatte genug Tränen für uns beide vergossen, aber jetzt weinte sie vor Freude, als sie die Brücke der Vögel sah, die in der Ferne schimmerte. Das Tanzmädchen und ihr Hauptmann erwiesen dem großen Gelehrten die Achtung und Aufmerksamkeit, die er verdiente, und Hahnrei Ho deutete mit einer großen Geste zum Himmel. »Und so kniete das Bauernmädchen vor dem Himmelskaiser, und er setzte ihr die kleine goldene Krone auf den Kopf. »Erhebt Euch, Prinzessin der Vögel, befahl er, und als Jadeperle aufstand, bemerkte sie voll Staunen, daß ein göttliches Licht sie umgab...« Der Falke schoß blitzschnell dahin. Berge und Täler verschwanden so schnell, als würde China wie eine Landkarte unter uns zusammengefaltet, und wir glitten den Abhang eines niedrigen Berges hinunter, wo wieder drei Geister auf einem Felsen saßen und zur Brücke der Vögel
Weitere Kostenlose Bücher