Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
»Also mit der Dirne, da bin ich mir nicht ganz so sicher, aber der Soldat war wirklich dumm«, sagte er nachdenklich. »Er hatte die ehrenvolle Möglichkeit, Euch zu heiraten, o Bild der Vollkommenheit, und doch wagte er, ein gemeines Tanzmädchen Euch vorzuziehen. Er schenkte ihr sogar einen wertvollen Jadeanhänger, der von Rechts wegen hätte der Eure sein sollen!«
Ich entdeckte allmählich eine gewisse Drohung hinter Li Kaos strahlendem Lächeln.
»Ich könnte mir vorstellen, es war das erste Mal in Eurem Leben, daß Euch etwas verweigert wurde, was Ihr wolltet«, sagte Meister Li. »Wißt Ihr, ich finde es eigentlich sehr seltsam, daß Leuchtender Stern den Anhänger des Hauptmanns nicht um den Hals trug, als man die Leiche aus dem Wasser zog. Sie wird doch wohl kaum innegehalten haben, um ihn abzunehmen, ehe sie sich in ihr nasses Grab stürzte... es sei denn natürlich, sie wollte sich überhaupt nicht ins nasse Grab stürzen, was bedeutet, jemand hat ein paar Schurken dafür bezahlt, eine Tür zu verschließen, einen Schlüssel zu stehlen und ein Tanzmädchen zu ermorden.«
Blitzschnell packte er mit beiden Händen die Goldkette um Jungfer Ohnmachts Hals und zog sie ihr über den Kopf. Am Ende der Kette hing ein Jadeanhänger, den er in seiner geöffneten Hand auf und ab tanzen ließ. Entsetzt und betroffen wurde mir klar, daß ich diesen Anhänger schon zweimal gesehen hatte. Das erste Mal zwischen den Brüsten von Jungfer Ohnmacht in der Kutsche, und danach zwischen den Geisterbrüsten von Leuchtender Stern. »Sagt mir, liebes Kind, tragt Ihr das immer so nahe an Eurem süßen kleinen Herzen?« fragte Meister Li und lächelte so freundlich wie zuvor.
Hahnrei Ho starrte seine monströse Tochter voll Grauen und Abscheu an, und ich vermute, in meinem Gesicht spiegelte sich nichts anderes. Jungfer Ohnmacht beschloß, es sei das sicherste, sich an Li Kao zu halten.
»Ihr wollt doch ganz sicher nicht andeuten...«
»Aber ja doch...«
»Ihr könnt mich doch unmöglich verdächtigen...«
»Auch da irrt Ihr Euch...«
»Dieser unglaubliche Unsinn...«
»Ist kein Unsinn.«
Jungfer Ohnmacht wurde rot, wurde blaß, griff sich an die Brust, schwankte und schrie: »Oh, Ihr seid mein Tod!« Dann wankte sie zwei Schritte rückwärts, sechs nach links und verschwand. Li Kao betrachtete die Stelle, an der sie verschwunden war. »Spitzfindige Kritiker könnten dazu neigen, Euch zuzustimmen«, sagte er mild und wandte sich ihrem Vater zu. »Ho, es steht Euch völlig frei zu hören, was Ihr hören wollt. Ich für meinen Teil höre eine Elster, die einen Schrei und ein Aufklatschen imitiert.« Hahnrei Ho war leichenblaß, seine Hände zitterten, und seine Stimme bebte, doch er zuckte nicht mit der Wimper. »Raffiniertes kleines Luder«, flüsterte er, »jetzt imitiert sie jemanden, der um Hilfe schreit.«
Li Kao und Hahnrei Ho gingen Arm in Arm weiter, und ich folgte ihnen nervös. »Welch' eine begabte Elster«, bemerkte Meister Li. »Wie um alles in der Welt gelingt es ihr, Planschen im Wasser und Gurgeln nachzuahmen? Es klingt wirklich, als würde jemand im tiefen Wasser versinken.«
»Die Natur bringt viele bemerkenswerte Talente hervor«, flüsterte Hahnrei Ho, »Euch zum Beispiel.«
»Ich habe einen kleinen Charakterfehler«, erwiderte Meister Li bescheiden.
Als wir eine Stunde später zurückkamen, schloß ich aus der Stille, daß die begabte Elster nicht länger unter uns weilte. »Ich glaube, ich sollte besser dieses Zeichen auf dem Pfad entfernen, damit die Übereifrigen sich nicht fragen, weshalb es genau zwei Schritte vor und sechs Schritte rechts von einem alten Brunnen liegt, dessen Deckel jemand so unbesonnen entfernt hat«, erklärte Meister Li. »Fertig?«
»Fertig«, sagte ich.
»Fertig«, sagte Hahnrei Ho.
Wir zerrissen uns die Kleider und rauften uns die Haare, während wir zum Palast zurückstürmten.
»O je!« jammerten wir, »o je! o je! o je! Die arme Jungfer Ohnmacht ist in einen Brunnen gefallen!«
Natürlich richteten sich Argwohn und Mißtrauen gegen Li Kao und mich. Da jedoch der Vater des Mädchens dabei gewesen war, stand außer Frage, daß es sich um einen Unfall handelte.
10.
Ein prunkvolles Begräbnis
Li Kao freute sich, daß es ihm gelungen war, jemanden zu ermorden, der es wirklich verdient hatte. Der Grund für den Mord lag darin, daß die Ahne auf ihre unnachahmliche Weise tief religiös war. Ein Beispiel ihrer Frömmigkeit war das gewaltige Mausoleum, dass sie
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