Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
»ich habe Angst vor Leichen.«
»Ho, wir können nicht zulassen, daß sie den Leichnam deiner Tochter schänden«, flüsterte ich.
»Haare und Fingernägel«, gab er flüsternd zurück.
»Was?«
»Haare und Fingernägel«, erklärte Meister Li ruhig. »Es ist ein uralter Brauch. Die Grabräuber öffnen die Gräber vornehmer Damen und schneiden ihnen die seidenen Locken und die makellosen Fingernägel ab, die sie für viel Geld an eine teure Kurtisane verkaufen. Die Kurtisane behauptet, es seien die eigenen Haare. Die Kurtisane macht sie einem reichen Liebhaber als Zeichen ihrer Treue zum Geschenk und behauptet, es seien ihre eigenen Haare und Fingernägel. Der Liebhaber glaubt, die liebeskranke Dame habe ihm die Macht über Leben und Tod gegeben - jede anständige Hexe könnte die Spenderin damit ins Unglück stürzen - und sieht sich daher veranlaßt, sich für das Geschenk mit unermeßlich wertvollen Zeichen seiner Treue zu revanchieren. Auf diese Weise haben nicht wenige Schönheiten lange nach ihrem Dahinscheiden dazu beigetragen, Liebhaber in den Ruin zu treiben. Übrigens eine sehr interessante Form von Unsterblichkeit«, erklärte Meister Li.
Die Schaufeln warfen wieder Erde in das Grab zurück, um eine mögliche Entdeckung und Verfolgung hinauszuzögern. Ich streckte meinen Kopf durch das Gebüsch. Mir fielen beinahe die Augen heraus.
»Wer, sag mir bitte, schaufelt die Erde so, daß sie sich genau auf der anderen Seite des Loches türmt?« fauchte Pfandleiher Fang. »In Beantwortung deiner Frage, mein geschätzter Kollege, möchte ich dir raten, auf den Boden zu pissen und dein Spiegelbild in der Pfütze zu betrachten«, erklärte Ma die Made.
Neben mir tauchte Li Kaos Kopf aus den Büschen auf, und seine Augen wurden schmal, als er das hübsche Paar betrachtete. »Merkwürdig«, sagte er nachdenklich. »Vielleicht ist es Schicksal, denn Pfandleiher Fang gehört nicht zu den Männern, die alles in ihre Bücher schreiben, was sie wissen. Wie sehe ich aus?«
»Wie bitte?« fragte ich fassungslos. »Hält der Lack?«
Ich musterte ihn mit einem leichten Schauder. Der Lack blätterte ab, und er wirkte wie eine sechs Monate alte Leiche. »Ihr seht schaurig aus.«
»Vorsicht mit der Schaufel«, jaulte Ma die Made und sprang angstvoll zurück. »Du hast beinahe meinen Schatten ins Grab gebracht!«
»Warum bindest du dir deinen Schatten nicht mit einer Schnur an den Körper, wie jeder vernünftige Mensch?« brummte Pfandleiher Fang.
»Großartig. Aberglauben hat auch seinen Nutzen«, sagte Meister Li glücklich.
Li Kao glitt aus dem Gebüsch, und durch den Dunst schwebte gespenstisch ein lackierter Lohan. »Oooooooooooooooooooooooooo«, heulte der schreckliche Geist.
Ma die Made fiel ohnmächtig in das halb zugeschüttete Grab, und Pfandleiher Fang sank auf die Knie und bedeckte die Augen. Eine hohle schaurige Stimme mit starkem tibetanischen Akzent hallte durch die Nacht.
»Ich bin Tso Jed Chonu, der Schutzherr des Ginseng. Wer wagt es, meine Wurzel der Macht zu stehlen?«
»Verschone mich, Geist«, jammerte Pfandleiher Fang, »ich wußte, daß die Ahne eine solche Wurzel besaß, aber ich schwöre, ich wußte nicht, wo sie verborgen war!«
» Nicht die geringere Wurzel!« brüllte der Schutzherr des Ginseng. »Ich meine die Große Wurzel!«
»Ü Geist, auf der ganzen Welt gibt es nur eine einzige Große Wurzel der Macht, und kein geringer Pfandleiher würde wagen, sie zu berühren?« schluchzte Fang.
»Wer hat meine Wurzel? Wo hat er sie verborgen?«
»Ich wage es nicht zu sagen!« jammerte Fang.
Tso Jed Chonu hob das schreckliche Gesicht zum Himmel und streckte die Hand nach einem Blitz aus.
»Der Herzog von Ch'in!« schrie Pfandleiher Fang. »Sie ist in seinem Labyrinth versteckt!«
Der furchterregende Lohan stand beinahe eine Minute gedankenverloren da. Dann schnappte er mit dem Finger. »Verschwindet!«
Die Ohnmacht von Ma die Made war nicht das, was sie zu sein schien. Er schnellte aus dem Grab und ließ Pfandleiher Fang zwanzig Schritte hinter sich, während sie beide im Dunst davongaloppierten. Li Kao blickte nachdenklich in das Grab, kniete dann nieder und griff hinein. Als er sich erhob, hielt er etwas in den Händen, das er im Mondlicht betrachtete. Dann kam er zurück und überreichte es Hahnrei Ho, der einen Freudenschrei ausstieß. Es handelte sich um das Fragment eines Tontäfelchens mit denselben alten Schriftzeichen wie auf den Stücken, an denen Ho seit sechzehn Jahren
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