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Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel

Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel

Titel: Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Hughart
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Wunders geworden war. Die Eltern weinten vor Freude, als sie ihre Söhne und Töchter umarmten. Die Großeltern tanzten, und die Bonzen rannten an die Seile. Sie schaukelten fröhlich auf und ab, während sie alle Glocken des Klosters läuteten. Der Abt tanzte eine Gigue und schrie aus Leibeskräften: »Namo Kuanshiyin Bodhisattva Mahasattva!« - das »Halleluja« guter Buddhisten. Nur Li Kao blieb ungerührt. Er ging von Bett zu Bett und untersuchte jedes Kind mit analytischer Kälte. Dann gab er mir das Zeichen, Klein Hong aus den Armen seines Vaters zu befreien. Er beugte sich über den Jungen und prüfte seinen Puls: erst am linken Handgelenk für die Funktionen von Herz, Leber, Nieren, Dünndarm, Galle und Harnleiter; dann am rechten Handgelenk für die Funktionen von Lunge, Magen, Dickdarm, Milz und Genitalien. Er winkte den Abt herbei und bat ihn, die Prozedur zu wiederholen, um die Ergebnisse zu vergleichen.
    Auf dem Gesicht des Abtes zeigte sich Verwirrung, Besorgnis und dann Verzweiflung. Eilig holte er seine Nadeln und überprüfte Akupunktur- und Schmerzpunkte, ohne daß die Kinder irgendeine Reaktion zeigten. Klein Hong behielt die frische Farbe; sein Puls schlug kräftig; das glückliche Lächeln blieb auf seinen Lippen; doch als Meister Li einen seiner Arme hochhielt und dann losließ, verharrte er in der Luft. Meister Li bewegte den Arm, und wieder blieb er genau da, wo er ihn losgelassen hatte. Der Abt packte Fangs Reh und schüttelte sie heftig. Doch das führte nicht einmal zu einem veränderten Pulsschlag.
    Li Kao richtete sich auf, schlurfte zum Tisch zurück und starrte ausdruckslos auf die leere Phiole. Alle Blicke richteten sich auf ihn. Er wirkte völlig erschöpft, und ich erkannte, daß er trotz seiner Müdigkeit nach Worten rang, die die Tatsache mildern würden, daß es so etwas wie ein Beinahe-Wunder nicht gibt. Die Wurzel der Macht hatte es beinahe geschafft, aber sie war einfach nicht stark genug. Ich hätte es nicht ertragen, seinem Blick zu begegnen. Ich wußte, daß er mir nur eins sagen konnte, und die Worte des uralten tibetanischen Textes gingen mir durch den Kopf: »Nur eine Behandlung ist wirksam und auch nur dann, wenn dem Arzt das seltenste und wirkungsvollste Heilmittel zur Verfügung steht: die Große Wurzel der Macht.« Ich sah das vor Angst verzerrte Gesicht von Pfandleiher Fang wieder vor mir, als er beteuerte, es gäbe nur eine einzige Große Wurzel der Macht auf der ganzen Welt. Und ich hörte ihn schreien: »Der Herzog von Ch'in. Er hat sie in seinem Labyrinth versteckt!« Selbst ein unwissender Junge vom Land wußte, daß der Herzog von Ch'in zehntausendmal gefährlicher war als die Ahne und daß man mit Kupfermünzen keinen Selbstmord bezahlen kann. Wenn ich mich auf die Suche nach der Großen Wurzel machte, würde es ganz allein meine Sache sein. Und es war noch nie jemandem gelungen, lebend aus dem Labyrinth des Herzogs zurückzukehren. Ich drehte mich auf dem Absatz um, stürmte durch die Tür und das Gewirr der Flure, die ich wie meine Hosentasche kannte, sprang dann aus einem niedrigen Fenster ins Gras und rannte über die Hügel.
    Ich hatte kein Ziel und verfolgte damit keinen Zweck, es sei denn, ich nahm unbewußt Abschied von meinem Dorf Ku-fu. Wie immer, wenn ich niedergeschlagen war oder mich fürchtete, wußte ich, ich mußte mir Bewegung verschaffen, denn das einzige, was ich besitze, sind Körperkräfte. Und wenn ich lange genug laufe, vergesse ich üblicherweise meine Sorgen. Ich rannte stundenlang durch Hügel, Felder und Wälder, und allmählich folgten mir die streunenden Hunde. Mir war schließlich ein ganzes Rudel auf den Fersen, als ich einem schmalen, gewundenen Pfad folgte, der zum dichten, niedrigen Gehölz am Abhang eines Hügels führte. Ich ließ mich auf die Knie nieder und zwängte mich durch eine Art Tunnel in eine kleine Höhle. Die Hunde drängten mir nach, und bald saßen wir auf einem Berg Knochen.
    Man nannte sie Drachenknochen, denn früher hatte man einmal geglaubt, daß Drachen sich regelmäßig ihrer Knochen entledigen, so wie Schlangen ihre Haut abstreifen. Doch in Wirklichkeit waren es die Schulterknochen von Haustieren, die man zu Orakelzwecken benutzt hatte. Skapulimantik ist uralt, und wie der Abt mir erzählt hatte, sind die Orakelknochen von An-yang der einzig sichere Beweis dafür, daß es die sagenumwobene Shang-Dynastie wirklich einmal gegeben hat.
    Werden andere Menschen wieder Kinder, wenn sie sich fürchten? Ich

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