Meister Li 01 - Die Brücke der Vögel
unsere Speere auf Nichts, und sie prallen von Nichts ab. Die Mauer beginnt zu schwanken. Die Hand.. .«
Li Kao richtete sich auf. »Das ist alles«, sagte er ruhig. »Uff!« stöhnte Geizhals Shen. »Mir ist egal, vor wie vielen Jahrhunderten das geschehen ist, ich möchte hier weg.« Das wollte ich auch. Ich kletterte auf die Mauer und blickte mich um.
»Ich sehe die Oase!« rief ich. »Auf der Rückseite des Palastes ist ein Lavasee, also müssen wir versuchen, die Oase über die Seitenstraßen zu erreichen.«
Das war nicht so einfach, wie es sich anhörte. Immer wieder standen wir vor glühendheißen Dampffontänen oder brodelnder Lava, die uns den Weg versperrte, und nicht nur wir waren in Sackgassen gelandet. Beinahe in jeder Seitenstraße türmten sich die zerkauten und zermahlenen Skelette in ihren nutzlosen Rüstungen. »Worum es sich bei diesem Wesen auch gehandelt haben mag, es besaß eindeutig großen Appetit«, murmelte Geizhals Shen sichtlich beunruhigt.
Wir versuchten erfolglos Straße um Straße, und schließlich waren wir beinahe wieder an dem Punkt angelangt, wo wir die Stadt betreten hatten. Li Kao blickte achselzuckend auf die großen Bronzetore und den schmalen Brückenbogen.
»Vielleicht gehen wir besser wieder über den Graben zurück und stellen fest, ob es auf der anderen Seite der Oase noch eine Brücke gibt«, sagte er.
Wir marschierten los, blieben aber plötzlich wie angewurzelt stehen. Uns fielen fast die Augen aus dem Kopf. Die Torflügel wogen Tonnen. Nichts berührte sie, doch sie schlössen sich quietschend! Mit einem ohrenbetäubenden metallischen Schlag fielen sie zu, und im Salz auf dem Boden davor erschien ein Abdruck. Es dauerte eine Weile, bis mein Verstand glaubte, was meine Augen sahen. Ich starrte auf den Abdruck eines riesigen Daumens, dem riesige Fingerabdrücke folgten, und dann sah ich eine breite Schleifspur. Eine riesengroße unsichtbare Hand kroch auf uns zu, die furchterregenden Finger krochen vorneweg, Ballen und Handteller schleiften hinterher!
Geizhals Shen und ich waren vor Angst wie erstarrt. Aber Meister Li fuhr herum, warf einen Blick auf das Gewirr der Gassen und Gäßchen und schrie: »Ochse, du mußt uns tragen!« Ich nahm Meister Li unter einen Arm und Geizhals Shen unter den anderen. Meister Li griff nach dem Drachenanhänger, der um meinen Hals hing. Seine Finger suchten die Stelle, wo der Drache verharrte, nachdem er uns zu dem ersten Schatz geführt hatte. »Ich hätte sofort erkennen müssen, daß dies hier auch ein Labyrinth ist«, sagte er grimmig. »Nimm die zweite Gasse rechts, und ich rate dir, möglichst schnell.«
Ich bezweifle, daß mein Geschwindigkeitsrekord für die Strecke gebrochen wird, solange nicht ein tibetanischer Schneeleopard es versucht, obwohl ich die beiden Männer trug. Doch Die Hand, die Niemand sieht, war beinahe genauso schnell. Die großen unsichtbaren Finger überspannten zwanzig bis dreißig Fuß, und das Salz wirbelte hinter dem gleitenden Handteller durch die Luft. »Erste links!« brüllte Meister Li, »zweite links!... vierte rechts!... dritte links!... erste rechts!...« Ich rannte keuchend durch das Labyrinth, sprang über Lava, wich blitzschnell Dampffontänen aus und sah schließlich grüne Baumwipfel vor mir. Ich begriff, daß der Drache uns zur Oase führte. Dann kam ich schlitternd zum Stehen. »Buddha sei unseren Seelen gnädig!« jammerte Geizhals Shen. Vor uns lag die wunderschöne grüne Oase, allerdings umgeben von einem Graben mit brodelnder Lava. Eine schmale Steinbrücke führte sicher über den feurigen Strom, aber Die Hand, die Niemand Sieht, hatte eine Abkürzung genommen. Die Brücke war für das Ungeheuer viel zu schmal, doch das half uns wenig, solange wir uns nicht auf der anderen Seite befanden. Voller Entsetzen starrte ich auf das Salz am Boden vor der Brücke. Große unsichtbare Finger scharrten heftig, Salz wirbelte auf, dann kroch die Hand aus der Hölle auf uns zu und versperrte uns den Weg zur Oase.
Am Rande des Grabens erhob sich das einzige intakte Gebäude, das wir bisher gesehen hatten. Vermutlich war es ein Wachturm. Er war hoch und schmal und stand unsicher auf riesigen Steinfundamenten. Sehr unzeremoniell stellte ich Meister Li und Geizhals Shen auf die Erde, rannte dorthin und stemmte mich mit der Schulter gegen den Turm. Ich drückte mit aller Kraft, und der Turm begann zu schwanken. Dann schob ich mit mehr Kraft, als ich besaß, und als es plötzlich krachte, glaubte ich,
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