Meister Li und der Stein des Himmels
ebenfalls
daraufhin durchzugehen. Mich schickte Meister Li ins Dorf, um zu sehen, ob ich
in den Geschichten und Märchen der Bauern etwas entdecken würde. Das lenkte
mich von Prinz Liu Pao und Klagende Morgendämmerung ab. Die Geschichten der
alten Frauen im Dorf über Steine hatte ich alle schon gehört. Also beschloß
ich, es auf eine andere Art zu versuchen. - Ein Schmied wird von Jungen
umschwärmt wie Blumen von Bienen. Ich beschloß, dem Dorfschmied zur Hand zu
gehen. Nachdem ich ein paarmal den Amboß hochgehoben und mit bloßen Händen ein
paar Eisenstäbe verbogen hatte, kamen genug Jungen, die mir alles erzählten,
was ich wissen wollte, und nach zwei Tagen stürmte ich in die
Klosterbibliothek. »Ein Stein !, ein Zauberstein!« rief
ich. Meister Li hob blinzelnd den Kopf von den Schriftrollen. »Es ist eine sehr
alte Jungengeschichte«, erzählte ich aufgeregt. »Bis jetzt kenne ich sie nur
ungefähr. Es geht um einen jungen Helden, der in eine geheime Höhle schleicht
und einen Zauberstein findet. Und wißt Ihr, was er mit diesem Stein vorhat ?« fragte ich rhetorisch. »Er will den Lachenden Prinzen
töten !« Meister Li lehnte sich zurück, legte die
Fingerspitzen aneinander und sagte: »Gut, gut, gut .«
14.
Erwachsene durften selten
an den Zusammenkünften des Heiligen und Ehrwürdigen Ordens des Wolfs
teilnehmen, aber Prinz Liu Pao war kein gewöhnlicher Besucher. Der Mond
leuchtete hell und strahlend. Ich lauschte auf den dreifachen Eulenschrei und
antwortete mit dem zweimaligen Miauen einer Katze. Aus den Schatten löste sich
ein Junge und führte uns durch labyrinthisches Unterholz zu einer niedrigen
Felswand. Der Prinz, Meister Li, Mondkind, Klagende Morgendämmerung und ich
krochen durch eine Öffnung und gelangten in eine Höhle. Dreizehn etwa elf- bis
vierzehnjährige Jungen begrüßten uns förmlich. Grund des Treffens war die
Aufnahme des dreizehnten, Kleiner Glatzkopf, in die Elitebande der Jungen im
Tal der Seufzer, und wir durften daran teilnehmen, bis man zu Kodes und
Losungen kommen würde.
An der Rückwand der Höhle
brannte eine Fackel. Auf dem Boden darunter lag das Skelett eines Jungen, der
ungefähr im Alter der Bandenmitglieder gewesen sein mußte. Es war ein sehr
altes Skelett, und der Junge hatte auf dramatische Weise den Tod gefunden. Die
Rippen waren zerschmettert, und im Brustkorb lag eine eiserne Speerspitze. Wie
die Bandenmitglieder verneigten auch wir uns vor den Knochen. Der Anführer hieß
Hirschohr. »Wie unsere Väter und Vorväter verneigen wir uns vor Wolf«,
verkündete Hirschohr förmlich. »Wir versammeln uns ihm zu Ehren, und unsere
erlauchten Gäste dürfen seiner Geschichte etwas hinzufügen .«
Die Jungen setzten sich im
Halbkreis um das Skelett, und wir nahmen direkt hinter ihnen Platz. Hirschohr
zog einen alten Ring von den weißen Fingerknochen. Er reichte den Ring höflich
Prinz Liu Pao, der ihn betrachtete und höflich weitergab. Der Ring war aus
schwarzem Eisen, und auf der Oberseite war ein Wolfskopf eingraviert. Meister
Li musterte höchst interessiert die Innenseite. Dort befanden sich schwache
Linien und Zeichen, mit denen ich nichts anfangen konnte. Wir gaben den Ring
Hirschohr zurück, und der steckte ihn ehrerbietig wieder über die Fingerknochen
des Skeletts.
Es folgte ein kurzes
Reinigungsritual von Kleiner Glatzkopf, dem Jungen, der eingeweiht werden
sollte. Die richtige Zeremonie würde erst stattfinden, wenn wir gegangen waren.
Hirschkopf begann, die Geschichte von Wolf zu erzählen, die mich zunächst
enttäuschte. Wie bei zahllosen anderen solcher Geschichten konnte ich beinahe genau voraussagen, was als nächstes geschah. Ein
Holzfäller findet ein Neugeborenes in einem Körbchen auf seiner Schwelle. An
einer Schnur um den Hals des Kindes sieht er einen Ring und ein Tontäfelchen.
Aber der Holzfäller und seine Frau können nicht lesen. Deshalb gehen sie mit
dem Täfelchen zu einem Priester, der ihnen die Inschrift vorliest.
»Wenn auf den Finger
paßt der Ring,
den Jungen zum Tempel
der Quelle bring .«
Sie haben keine eigenen
Kinder und beschließen, den Findling als ihr eigenes aufzuziehen, und da in den
Ring ein Wolfskopf eingraviert ist, nennen sie den Jungen Wolf. Es vergehen
zwölf Jahre, dann paßt der Ring auf den Finger, und der Holzfäller bringt Wolf
zum Tempel der Quelle und zu dem Meister dort, der dafür bekannt ist, daß er
alle möglichen seltsamen Dinge übernimmt. Ein Priester sucht im Archiv und
erklärt, vor
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